Das geheimnisvolle Kleid

- | Niederlande 1996 | 99 Minuten

Regie: Alex van Warmerdam

Auf den Spuren eines Kleides, das mehrere Male die Besitzerin wechselt, stellt der Film ein Panoptikum grotesker Personen und kurioser Schicksale vor. Ohne psychologische Erklärungsmuster und mit surrealen Zwischentönen in der Tradition Luis Buñuels entwirft er quer durch die verschiedenen Klassen ein schonungsloses Gesellschaftsporträt. Gefühllosigkeit, Kälte und eine zügellose Triebhaftigkeit kennzeichnen das menschliche Miteinander, besonders aber das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Ein souverän kalkulierter, unberechenbarer, dabei ebenso humorvoller wie bitterer Film jenseits aller Logik.
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Filmdaten

Originaltitel
DE JURK
Produktionsland
Niederlande
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Graniet Film
Regie
Alex van Warmerdam
Buch
Alex van Warmerdam
Kamera
Marc Felperlaan
Musik
Vincent van Warmerdam
Schnitt
René Wiegmans
Darsteller
Henri Garcin (Van Tilt) · Ariane Schluter (Johanna) · Alex van Warmerdam (Zugschaffner De Smet) · Ricky Koole (Chantalle) · Elisabeth Hoijtink (Stella)
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
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Diskussion
Alex van Warmerdams dritter Film führt den Zuschauer zu Beginn mitten in ein Baumwollfeld, das friedlich-idyllisch im unschuldigen Weiß strahlt. Bis die unbarmherzige Erntemaschine dazwischenfährt und damit den Herstellungsprozeß einläutet, an dessen Ende das Objekt der zukünftigen Begierden stehen wird: ein farbenfrohes Sommerkleid. Die Atmosphäre von Brutalität und Kälte, die diese Eingangssequenz suggeriert, wird den ganzen Film bestimmen. Von Anfang an scheint ein geheimnisvoller Fluch auf diesem Bekleidungsstück zu liegen, der jeden befällt, der damit in Berührung kommt. Schon der Designer des Motivs wird davon betroffen, ebenso ein Geschäftsmann, der eben jenes Motiv hart kritisiert: Beiden läuft die Partnerin davon, letzterer verliert sogar seinen Job. Dem Schneider des späteren Kleides entflieht ebenfalls die Geliebte; das aber aus gutem Grund, denn er hetzt aus ganz offensichtlich perversen Neigungen ein klobiges Schwein auf sie. Eine sehr absonderliche Welt mit noch merkwürdigeren Protagonisten. Das ist das seit „Noorderlingen“ (fd 31 717) fast schon vertraute Universum und Panoptikum von Alex van Warmerdam; einer, der wie kaum ein anderer seit Luis Buñuel Surrealismus, schwarzen Humor und Gesellschaftskritik auf einen Nenner zu bringen vermag.

So haltlos wie seine Figuren, so zufällig bald hierhin, bald dorthin treibend ist die Geschichte des Films. Keine ordnende Institution eines „Erzählers“, die nach Sinn suchen oder ihn konstruieren könnte, ist auszumachen. Es regiert die reine Beliebigkeit – von dem Theatermann und Designer van Warmerdam letztlich freilich wieder kühl kalkuliert, bisweilen aber auch grotesk überspitzt in Szene gesetzt, ohne jede Berücksichtigung psychologischer Berechenbarkeit oder Motivation. So folgt der Zuschauer dem Reigen von Ereignissen, der statt einer irgendwie gearteten Sinnhaftigkeit nur Fragmente einer Chronologie des Zufalls vor Augen führt, unvorhersehbar und bar jeder Logik. So läßt van Warmerdam auch völlig dahingestellt, was denn mit Stella, der ersten Besitzerin des Kleides, passiert, die urplötzlich von Melancholie und Angst überwältigt wird, während ihr Mann nur ein Zimmer weiter im eigenen Haus überfallen wird, ohne daß sie es mitbekommt. Urplötzlich sinkt sie ihm kurz darauf in die Arme, als habe das Kleid, das sie seit kurzem trägt, ihrem Körper sämtliche Lebensenergie entzogen. Kurz darauf ist sie tot, und das Kleid macht sich bei Sturm und Regen von der Wäscheleine aus auf den Weg zu einer neuen Besitzerin.

Fielen schon in „Noorderlingen“ die extrem aus dem Gleichgewicht geratenen (sexuellen) Beziehungen zwischen den Geschlechtern auf, so treibt es van Warmerdam nun auf die Spitze des Erträglichen. Sowohl Johanna, die Geliebte eines kaum an ihr interessierten Malers, als auch die junge Chantalle, die beide in den zweifelhaften Genuß des Kleidungsstücks kommen, fallen dem kuriosen, abgründigen Zugschaffner De Smet (von van Warmerdam selbst beängstigend dargestellt) zum Opfer. Der nämlich begegnet den Frauen während der Bahnfahrt, läßt sich flugs von seinem Kollegen als krank entschuldigen und lauert ihnen auf. Daß der Regisseur kein Anhänger „politischer Korrektheit“ ist, kommt in diesen Szenen drastisch zum Ausdruck. De Smet geht hemmungslos zu Werke, zwingt den Frauen mit einer unglaublichen Geradlinigkeit und Kälte seinen Willen auf, daß einem der absurde Witz der Szenen im Halse stecken bleibt. Bedürfnis nach Nähe und Schutzlosigkeit werden in diesem Film gnadenlos bestraft – hier helfen nur Härte und Entschlossenheit.

Daran ändert auch die überraschende Pointe dieser Konfrontationen nichts. Zum Schluß ist der Zuschauer mit dem Kleid am unteren Ende der sozialen Leiter angekommen. Eine Obdachlose, die auf einem Parkgelände in einem Erdloch haust, ergaunert es sich, doch auch ihr wird es kein Glück bringen. Und in der Person des Geschäftsmannes aus dem ersten Teil des Films, der bereits zwischendurch als Zugverkäufer auftauchte und mittlerweile ganz nach unten durchgerutscht ist, nimmt der soziale Abstieg eindeutige Gestalt an. Van Warmerdam erlaubt sich nicht einen Hauch von Sozialromantik – ganz unten wird mit genauso harten Bandagen gekämpft wie weiter oben: von Solidarität keine Spur. Das Kunststück des Films ist, daß er diese Kälte und Trostlosigkeit unterhaltsam vor Augen führt – ohne zu beschönigen, ohne zu beschwichtigen.
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