Lichter aus dem Hintergrund

Dokumentarfilm | Deutschland 1998 | 93 Minuten

Regie: Helga Reidemeister

Bestandsaufnahme mentaler Befindlichkeiten in Teilen der Ost-Berliner Künstlerszene, die auf die einschneidenden Veränderungen nach der Wende mit einer trotzigen Verweigerungshaltung reagieren. Ein einfühlsamer Dokumentarfilm, in dessen Mittelpunkt sensible Künstlerpersönlichkeiten stehen, die den Verlust ihrer Kreativität infolge der gesellschaftlichen Veränderungen beklagen. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Ö-Filmproduktion Löprich & Schlösser
Regie
Helga Reidemeister
Buch
Helga Reidemeister · Guntram Weber
Kamera
Lars Barthel
Musik
Konrad Bauer
Schnitt
Dörte Völz-Mammarella
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
„Das wird hier alles aussehen wie Dortmund oder Düsseldorf“, stellt der junge Ost-Berliner Fotograf Robert Paris angesichts der postmodernen Vorzeigebau-Klotzerei auf der größten Baustelle Europas fest. Den Potsdamer Platz hat er nach der Wende unterirdisch fotografiert. Ein Berlin, das es nicht mehr gibt, eingefangen in Bildern von geradezu beschwingter Morbidität, die als „Lichter aus dem Untergrund“ 1993 in einer Ausstellung zu sehen waren. Vier Jahre später sind durch die einschneidenden architektonischen Veränderungen die Motive seiner Arbeit verschwunden. Robert Paris trauert nicht nur über den Verlust der vertrauten Welt, die er nicht unbedingt lieber mochte, die aber ein Indikator für das Lebensgefühl seiner Generation war, sondern beklagt auch das Schwinden seiner Kreativität. Vergeblich hat er versucht, sich in den neuen Verhältnissen zurechtzufinden, wo die Freude über Freiheiten von Existenzproblemen, Zukunftsängsten und einer schleichenden Veränderung des zwischenmenschlichen Gefüges getrübt wird; in der neuen Unübersichtlichkeit, wo die Gesetze der freien, wild wuchernden Marktwirtschaft soziale Desintegration nach sich ziehen und schmerzlich vor Augen führen, daß die Beschränkungen des alten Systems durch andere, subtilere Mechanismen der Leistungsgesellschaft ersetzt wurden.

„Lichter aus dem Hintergrund“ heißt in freiem Assoziationsspiel Helga Reidemeisters Dokumentarfilm, in dem die Mauerkinder-Generation Ost-Berlins skizzenhaft porträtiert wird. Menschen, vorwiegend junge Künstler, die sich auf der Suche nach einer neuen Identität mit der Realität nach den großen historischen Umwälzungen nicht arrangieren können – und lieber im Hintergrund bleiben. Hintergrundgeschichten also, die das homogene (Medien-)Bild einer vermeintlich schlüssigen, sinnstiftenden Historie konterkarieren. „Hintergrund“, ein optischer Begriff aus der Kunst, verweist aber auch auf den Dialog, den der Film mit der Fotografie führt, wenn Reidemeister die Gespräche durch symbolträchtige Stadtaufnahmen und Paris’ Fotos unterbricht: mit menschenleeren Stadtlandschaften in expressivem Schwarz-Weiß, die das Gefühl von Eingeschlossensein und Einsamkeit vermitteln. Und vom auffälligen Gespür ihres Autors für räumliche Tiefe zeugen, das die Kamera in durchkomponierten, jedoch kaum stilisierten Stadtbildern eindrucksvoll nachzuvollziehen weiß, wie sie umgekehrt in den Szenen, wo Menschen zu Wort kommen, diesen wie ein suchender Blick dicht auf den Fersen bleibt. Der Wechsel von Schwarz-Weiß und Farbe scheint dabei einer Abgrenzung mentaler Räume von der Alltagsrealität zu dienen, wo ein gnadenloser, fast schon absurder Wettlauf der Gestaltung „um die grellste Wirkung mit Materialien und Farben“ tobt, wie es die Regisseurin ausdrückt.

Es ist Reidemeisters Verdienst, daß sie sich Menschen mit DDR-Biografien zuwendet, wo andere selbstgefällig wegsehen. Sie fragt nach Befindlichkeiten und betreibt eine mentale Ursachenforschung über die trotzige Verweigerungshaltung. Berlin, die Stadt im Umbruch, verändert das Leben seiner Bewohner, was Paris und seine Freunde vom Prenzlauer Berg als einen Bruch wahrnehmen. Sie kommen sich fremd vor in ihrer eigenen Stadt, wo multinationale Konzerne dem Weichbild der Hauptstadt ihren Stempel eindrücken. Bereits als Sohn eines bekannten DDR-Künstlerehepaars war Paris unangepaßt und suchte nach eigenen Lebensentwürfen abseits der geltenden Normen. In einer Gesellschaft, die, wie Paris sagt, über seelische Leichen geht, will er nicht funktionieren. In seiner Randexistenz verdingt er sich in Szenekneipen, und wie viele Aussteiger vor ihm zieht es ihn auf der Suche nach alternativen Lebenswegen in die Ferne, nach Indien, wo er seine Kreativität wiederzufinden hofft. Mit ihrer behutsamen Bestandsaufnahme seelischer Befindlichkeiten gelingt es Helga Reidemeister, nicht nur als Chronistin das heutige Lebensgefühl der Mauerkinder einzufangen, sondern nebenbei auch zu ergründen, warum es sich von den eskapistischen Gruppenritualen der MTV- und Techno-Generation unterscheidet: Verweigerung gegenüber den Spielregeln der Konsumgesellschaft und Pochen auf Gleichwertigkeit bei gleichzeitiger Andersartigkeit ihrer Erfahrungswelten bestimmen ihr Bewußtsein. Heute richten sich kaum noch Blitzlichter auf die alternative Welt vom Prenzlauer Berg. Dafür gerät der Stadtteil durch seine Nähe zum Regierungsviertel immer mehr ins Visier der Immobilienspekulanten.
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