Die Stille (1996)

Kinderfilm | Iran/Tadschikistan/Frankreich 1996 | 75 Minuten

Regie: Mohsen Makhmalbaf

Ein blinder zehnjähriger Junge verdient in Tadschikistan den Lebensunterhalt für sich und seine allein erziehende Mutter, indem er für einen Lautenmacher die Instrumente stimmt. Als er einem Musiker folgt, der die ersten Takte von Beethovens 5. Sinfonie spielt, beginnen die Probleme. Zwar findet er den Musiker, der mit ihm geht und zur Besänftigung für die Lautenmacher und den Hausbesitzer spielt, aber die Hilfe kommt zu spät. Märchenhafter Kinderfilm über die Verantwortung für sich und andere. Auch als gesellschaftspolitische Metapher für das Leben in Iran zu verstehen, inszeniert mit Laiendarstellern sowie beeindruckenden akustischen und optischen Elementen. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 8.
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Filmdaten

Originaltitel
SOKOUT | LE SILENCE
Produktionsland
Iran/Tadschikistan/Frankreich
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Makhmalbaf Prod./MK2 Prod.
Regie
Mohsen Makhmalbaf
Buch
Mohsen Makhmalbaf
Kamera
Ebrahim Ghafori
Schnitt
Mohsen Makhmalbaf
Darsteller
Tahmineh Normatova (Khorshid) · Nadereh Abdelahyeva (Nadereh) · Golbibi Ziadolahyeva (Mutter von Khorshid) · Hakem Ghassem · Araz M. Mohamadli (Musiker)
Länge
75 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 8.
Genre
Kinderfilm

Diskussion
Die guten Bienen summen anders als die Bienen, die schlechten Honig machen, die saftigen Äpfel hören sich besser an als die unreifen. Der zehnjährige blinde Khorshid erlebt seine Umwelt mit den Ohren intensiver als andere mit den Augen. So verdient er auch für die vom Vater verlassene Mutter das Geld: Mit seinem absoluten Gehör stimmt er für den Lautenbauer am anderen Ende der Stadt die Instrumente. Das etwa zwei Jahre ältere Mädchen aus der Familie des Instrumentenmachers führt ihn jeden Tag zu Fuß und mit dem Bus zur Arbeit. Wenn Khorshid auf dem langen Weg unter den vielen Alltagsgeräuschen eine Melodie heraushört, die ihm gefällt, vergisst er für kurze Zeit sein einförmiges Leben und ist glücklich. Er lauscht der Musik, auch in den Straßen, und kommt oft zu spät zur Arbeit. Eines Tages hört er im Bus die ersten Töne von Beethovens 5. Sinfonie. War das nicht der Rhythmus, mit dem der Hausbesitzer an die Tür klopfte, um Khorshid und seiner Mutter mit dem Rausschmiss zu drohen, weil sie die Miete nicht zahlen können? Khorshid ist ganz besessen von dieser ungewöhnlichen Musik. Er macht sich auf die Suche nach dem Mann, der diese Melodie gespielt hat. Dabei verirrt er sich. Aber er findet tatsächlich den Musiker. Der freut sich und ist bereit, dem Jungen zu helfen. Er will für den Lautenbauer spielen, damit Khorshid seinen Job nicht verliert, und auch für den Hausbesitzer. Aber es ist zu spät. Als die beiden bei der Mutter ankommen, hat sie der Hausbesitzer mit ihren Habseligkeiten schon vor die Tür gesetzt.

Die lichtdurchflutete Landschaft, das armselige Haus der Mutter am Fluss, die bunte Welt der farbenfrohen Stoffe auf dem Markt in der Stadt, die Stände mit Obst und Gemüse am Wegrand, die kleinen Schaf- und Ziegenherden, die Männer mit den ausgemergelten Gesichtern im Bus - Mohsen Makhmalbaf nimmt sich viel Zeit zu Beginn des Films, um mit poetischen Bildern quasi dokumentarisch all das zu zeigen, was der blinde Junge nicht sehen kann. Selbst dann, wenn die Musik und die Geräusche zum treibenden Element werden, schaffen es die akustischen Eindrücke nicht, diese bilderstarke Inszenierung zu überdecken. Angesichts des Titel „Die Stille“ mag das irritierend sein, aber Makhmalbaf (Jahrgang 1957, er dreht seit 1982 und ist neben Abbas Kiarostami der berühmteste Regisseur seines Landes) geht es einmal mehr darum, die Verbindungen zwischen Kunst, Natur und Leben aufzuzeigen und mit persönlichen Erlebnissen zu verbinden. Als er klein war, erzählte Makmalbaf, habe seine Großmutter ihm gesagt: „Wer Musik hört, kommt in die Hölle.“ So habe er sich die Ohren zugestopft. Später habe er erlebt, wie ein Freund sich verirrt habe und dank der Musik, die aus dem Kassettenrekorder einen Unbekannten kam, zurückfand. Die Vorliebe für die im Film wie ein Fremdkörper anmutende westliche Musik Beethovens ist ein weiteres persönliches Element, das Makhmalbaf einbrachte. Der blinde Junge als Metapher für eine neue Politiker-Generation im Iran, die noch nicht so genau weiß, was sie will und vielleicht auch auf ihre innere Stimme hören sollte, ist der gesellschaftspolitische Hintergrund der Geschichte, der sich aber nie in den Vordergrund drängt. „Die Stille“ ist vor allem ein Kinderfilm und gehört damit zum häufigsten, weil politisch problemlosen Filmgenre im Iran. Doch die beiden Hauptpersonen sind ungewöhnliche Kinder, die nicht zur Schule gehen, und eine für ihr Alter zu große Verantwortung tragen müssen, was Makhmalbaf auch kritisiert. Khorshid vernachlässigt seinen Job und seine Aufgabe als Ernährer der Familie, als er einmal egoistisch seiner Neugier und der Liebe zur Musik folgt. Aber er vergisst seine Verpflichtungen nur vorübergehend. Das andere Kind ist Nadereh, das Mündel des Instrumentenbauers. Als Khorshid nicht am üblichen Platz auf sie wartet, ist sie verzweifelt. Sie fühlt sich für ihn verantwortlich und weiß, dass er ohne Führung hilflos umherirrt. Sie sucht ihn und hat mindestens so viel Angst vor dem Versagen wie ein Erwachsener. Diese Angst kennt Khorshid nicht, denn er hat es noch nicht verlernt, sich über einfache Dinge zu freuen und zu hoffen. Er gibt sich optimistisch, dass die Probleme sich lösen lassen.

Makhmalbaf hat geahnt, dass man seinen Film zuhause zensieren würde (bis heute war er dort nicht zu sehen, weil Makhmalbaf sich weigerte, eine Tanzszene herauszuschneiden). Er drehte nicht im Iran, sondern in Tadschikistan. Aber diesen Unterschied merkt man so wenig wie die Tatsache, dass Khorshid von einem Mädchen gespielt wird, so märchenhaft und doch universell ist diese behutsam inszenierte Geschichte.
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