Literaturverfilmung | Deutschland 1998 | 271 (93/88/90) Minuten

Regie: Jo Baier

Dreiteiliges Familienepos nach dem autobiografischen Roman des ostdeutschen Schriftstellers Erwin Strittmatter, das aus dem Leben eines anfänglich neunjährigen Bäckerjungen aus einem Niederlausitzer Dorf zwischen dem Ende des Ersten und des Zweiten Weltkrieges erzählt. Der detailreich ausgestattete Film forscht nach der Dialektik von Veränderlichem und Archaischem, nach Konstanten in allen Generationen und Zeiten. Ein ambitionierter Versuch, der vor allem dank vorzüglicher darstellerischer Leistungen in Bann schlägt, der auf Grund von (notwendigen) Verkürzungen und Vereinfachungen der Romanvorlage mitunter aber in einem pittoresken Panoptikum steckenbleibt. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Manufactum/ORB/WDR/SWR/MDR/BR/arte/Studio Babelsberg Independents
Regie
Jo Baier
Buch
Jo Baier · Ulrich Plenzdorf
Kamera
Gernot Roll
Musik
Thomas Osterhoff
Schnitt
Clara Fabry
Darsteller
Ole Brandmeyer (Esau als Kind) · Bastian Trost (Esau als Jugendlicher) · Arnd Klawitter (Esau als Erwachsener) · Carmen-Maja Antoni (Großmutter) · Martin Benrath (Großvater)
Länge
271 (93
88
90) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12 (Teil 2: ab 6)
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
Erwin Strittmatter (1912-1994) gehörte in der DDR zu den meistgelesenen Schriftstellern, blieb aber im Westen so gut wie unbekannt. Auch sein letztes großes Werk, der dreibändige autobiografische Roman „Der Laden“ (1983/92), änderte daran wenig. Dabei war das Buch durchaus nicht nur als Lausitzer Heimatroman, sondern als kleines Welttheater angelegt: Zeitgeschichte zwischen dem Ende des Ersten und des Zweiten Weltkrieges aus der Sicht einfacher Leute; private Lebenswege als Spiegel existentieller Umbrüche; die ewige und die ewig unerfüllte Sehnsucht nach Glück. Jo Baier („Wildfeuer“, fd 29 133) sah in dem Stoff die Möglichkeit, ein filmisches Pendant zu Edgar Reitz’ „Heimat“ (1981/84) zu schaffen, diesmal in Ostdeutschland angesiedelt. Die Suche nach Verbündeten in Filmförderanstalten und Fernsehreaktionen geriet freilich zu einer Odyssee, die so langwierig wurde, daß Drehbuchautor Ulrich Plenzdorf schließlich sogar mutmaßte, irgend jemand habe „die Losung ausgegeben: Oststoffe sind out“. Erst das Engagement des Potsdamer Senders ORB führte zu einer materiellen Absicherung des Unternehmens, das dann im Herbst 1997 in drei Monaten Drehzeit absolviert wurde.

Roman wie Film forschen nach der Dialektik von Veränderung und Archaischem, nach Konstanten über Generationen hinweg: etwa dem Verhältnis von Kindern und Eltern, Männern und Frauen, Mensch, Landschaft und Natur. Wo sich Strittmatter auf Hunderten von Seiten Zeit nehmen konnte, um Biografien bis in letzte Verästelungen zu folgen und verschüttete Schichten der Alltagswirklichkeit freizulegen, mußte der Film notgedrungen kürzen, raffen, verdichten. Für jedes Kapitel des dreiteiligen Epos wurde dabei nach besonderen Farben und einem eigenständigen Rhythmus gesucht. Der erste Teil in warmen Brauntönen führt ins Refugium der Kindheit: ein nostalgisches Erinnern an ein versunkenes Universum, gesehen mit den Augen des neunjährigen Bäckerjungen Esau Matt. Im zweiten Kapitel, mit verhaltenerer Optik, erscheint die Welt rationaler: Esau erlebt und erleidet in der nahegelegenen Kreisstadt seine erste Liebe. Der dritte, in kühle blaugrüne Töne getauchte Teil macht deutlich, wie der Zweite Weltkrieg nicht zuletzt im Privaten viele Kontinuitäten zerstörte und ungeahnte Brüche und Verbitterungen bewirkte. Hier konzentriert sich der Film auf die Dreiecksgeschichte zwischen Esau und zwei Frauen: einer sinnlichen Gemeindeschwester, die auf ihn verzichtet, als plötzlich eine andere kommt, mit der er einen Sohn hat, ein auf Heimaturlaub gezeugtes Kriegskind, das zu akzeptieren und gar zu lieben er erst lernen muß.

Solche Momente entsprechen der ideellen Konzeption, Zeit und Politik über private Erfahrungen transparent werden zu lassen. Wenn beispielsweise nach der Eröffnung des Bäckerladens 1919 die ersten Kunden das Brot vom Ladentisch nehmen und gleichzeitig darum bitten, die Schuld anzuschreiben, wirft das ein Schlaglicht auf die soziale Lage des Dorfes, in dem sich die Matts niedergelassen haben. Manche dieser Szenen dürften beim Zuschauer freilich einen Déjà-vu-Effekt bewirken: Das Leben, geronnen zum Klischee, gab es auf ähnliche Weise schon in zahllosen anderen Filmen zu besichtigen. Baier und Plenzdorf mögen diese Gefahr gespürt und sie dadurch zu umgehen versucht haben, daß sie sich verstärkt auf einmalige, individuelle Episoden des Buches konzentrierten: die Fahrt der Mutter auf dem Rücksitz des Motorrads, die im Matsch endet, oder die Knallerbsen, die in der Hose eines Jungen explodieren. Solche „Gags“ aber verwandeln den Film, vor allem im ersten Teil, in ein pittoreskes Panoptikum, bei dem weniger Edgar Reitz Pate gestanden hat als vielmehr Filme à la „Die Heiden von Kummerow und ihre lustigen Streiche“ (fd 15 165). Noch schwerer wiegen einige politische Fragwürdigkeiten, die ebenfalls Verkürzungen der Romanvorlage geschuldet sind. Die russischen Soldaten und Offiziere beispielsweise werden im dritten Teil ausschließlich als Horde wilder Vergewaltiger und Räuber gezeichnet. Selbst wenn „einfache“ Leute so gefühlt haben mögen: Widerspricht dies nicht der Erzählperspektive aus der Sicht des doch immerhin aufgeklärten Kriegsheimkehrers Esau Matt? Und war bei Esau, wie der Film vorführt, tatsächlich schon 1946 die Möglichkeit, schreiben zu dürfen, der einzige Grund, in die „Partei“ einzutreten? Gab es nicht so etwas wie politische Ideale und Illusionen? Darstellerisch bietet „Der Laden“ zahlreiche Kabinettstücke: allen voran Dagmar Manzel als Mutter Matt, eine Glucke, die alles für den Erhalt der Familie und des Geschäfts zu tun bereit ist, auch wenn sie weiß, daß ihre Sehnsucht nach Harmonie an der Seite ihres untreuen Mannes unerfüllt bleibt. Carmen Maja Antoni und Martin Benrath als Großeltern tragen die Jahrhundertlast kleiner Leute auf dem Rücken; vorzüglich Ingo Naujoks, der den kriegsversehrten Onkel Phile mit tragikomischem Grundton spielt - ein Mann, der sich immer wieder selbst am Schopf auf dem Sumpf zieht. Gernot Rolls Kamera führt, schwenkt und kreist besonders im ersten Teil fast ununterbrochen: eine irritierende visuelle Atemlosigkeit, die durch eine äußerst hastige Montage noch potenziert wird. Dieser vermeintlich moderne Erzählstil wirkt technikbesessen und lenkt mitunter von den Figuren ab, wohingegen eine an Hollywood-Kompositionen erinnernde sinfonische Musik dann wieder emotionale Brücken schlagen soll. Weniger wäre hier mehr gewesen.
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