- | Frankreich 1996 | 97 Minuten

Regie: Jacques Doillon

Nach dem Tod seiner Mutter verharrt ein vierjähriges Mädchen in einer tiefen Trauer, die es intuitiv durch die Zwiesprache mit Gott zu lindern versucht. Zunächst bleiben seine Gebete unerhört, doch als der Leidensdruck am größten ist, zeigt sich ein Hoffnungsschimmer, durch den die Trauer verarbeitet und ins weitere Leben eingeordnet werden kann. Ein sensibler und poesievoller Film, der eine kindlich-naive Perspektive einnimmt, um Glaubensfragen und Gottesvorstellungen zu thematisieren. Bei aller inszenatorischen Kargheit ein eindrucksvoller, radikaler Beitrag zum Thema Glauben. (Preis der OCIC-Jury in Venedig 1996; Kinotipp der katholischen Filmkritik; O.m.d.U.) - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
PONETTE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Les Films Alain Sarde/Rhône-Alpes Cinéma/Region Rhône-Alpes/Centre National de la Cinématographie/Canal +
Regie
Jacques Doillon
Buch
Jacques Doillon
Kamera
Caroline Champetier
Musik
Philippe Sarde
Schnitt
Jacqueline Fano
Darsteller
Victoire Thivisol (Ponette) · Xavier Beauvois (Vater) · Marie Trintignant (Mutter) · Claire Nebout (Tante) · Matiaz Bureau Caton (Ponettes Cousin)
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
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Diskussion
Wie kaum ein anderer Filmemacher hat sich Jacques Doillon eine eigene Filmwelt erschaffen und sich mit Sujets beschäftigt, denen er vorbehaltlos treu blieb. Hochintellektuelle Liebesgeschichten mit all ihren überkomplizierten Verästelungen gehören ebenso dazu wie die Arbeit mit jugendlichen Darstellern, deren Verhalten jedoch nicht unbedingt jugendliches Erleben und Empfinden spiegelt, sondern als Projektionsfläche für erwachsenes Verhalten dient. Dieser Zuwendung sind Filme wie „Der kleine Gangster“ (fd 28 823) oder "W. – Le jeune Werther" (fd 30 447) zu verdanken, aber auch „Eine Frau mit 15" (fd 28 021), in dem sich die beiden Obsessionen Doillons behutsam überschneiden. In diesen Filmen konfrontierte er seine jugendlichen Charaktere mit Problemen, die eigentlich „eine Nummer zu groß“ für sie waren: Doillon ließ sie eine sehr erwachsene Weltsicht transportieren, ohne freilich ihre altersmäßigen Bedürfnisse zu überfordern. Eine Gratwanderung, die ein ungeheures Maß an Sensibilität und Einfühlungsvermögen erfordert. Mit „Ponette“ hat sich Doillon nun an eine weitere Grenze herangetraut, indem er ein vierjähriges Mädchen mit dem Tod seiner Mutter konfrontiert: Ein Film über einen unwiederbringlichen Verlust, grenzenlose Trauer, das „Verrücktwerden“ im Schmerz, letztlich über die Akzeptanz des nicht zu Akzeptierenden, die überlebensnotwendige Wichtigkeit des Loslassenkönnens und den Trost, den der Glaube spenden kann. Ein Film, der kindliches Empfinden auszubalancieren versucht – und gewiß kein Kinderfilm.

Ponette ist mit dem Schrecken und einem gebrochen Arm davongekommen, ihre geliebte Mutter, die den Autounfall verursachte, ist tot. Nun ist Totsein für ein kleines Kind ein viel zu abstrakter Begriff, um als solcher ernstgenommen werden zu können, zumal die Tante, bei der das Kind vorrübergehend untergebracht wird, vom Jüngsten Gericht und von der Auferstehung der Toten erzählt und Ponette die Heilsbotschaft im Fall ihrer Mutter sofort umgesetzt sehen will. Sie fleht zu Gott, bringt immer nur den einen Wunsch dar, wieder mit der Mutter vereint zu sein. Auch der atheistische, wenig verständige Vater, der glaubt zu wissen, daß Gott nicht für die Lebenden, sondern nur für die Toten da ist, kann Ponette nicht von dem eingeschlagenen Weg abbringen. Das Kind sucht Zwiesprache mit Gott, der irgendwo da oben im Himmel wohnen wird, und für den es ein Leichtes wäre, die Mutter wieder ins Leben zurückzuschicken. Um den Wunsch erfüllt zu sehen, unterzieht sich Ponette während eines Ferienlagers einer Reihe von Mutproben, die ihr ein Mädchen auferlegt, das glaubt, ein „Kind Gottes“ zu sein und einen „direkten Draht“ zum Schöpfer zu haben. Doch auch diese Anstrengungen fruchten wenig. Die Verzweiflung ist größer als der Trost, den Gebete und eine vage Hoffung spenden. In ihrer Not reißt Ponette aus, pilgert zum Grab ihrer Mutter, hält einmal mehr Zwiesprache und will sich verzweifelt in die noch lockere Erde eingraben. Und dann endlich scheint Gott ein Einsehen zu haben. Für Minuten kehrt die Mutter wieder, tröstet ihr Kind und nimmt Abschied. Jetzt kann Ponette versuchen, mit dem Verlust fertig zu werden, den Tod der Mutter zu akzeptieren. Sie trägt jetzt deren roten Lieblingspullover und hat den ganz profanen Auftrag, glücklich zu werden.

Selten hat ein Film sprituelle Werte, Glaubensfragen und die Frage nach Gott so offensiv und ohne Berührungsängste thematisiert; selten hat aber auch ein Film dermaßen die Meinungen polarisiert. Dabei dreht sich die Kritik in erster Linie um die Frage, ob kindliche Trauerarbeit und kindlicher Glaube adäquat dargestellt werden, und ob die kleine Hauptdarstellerin in ihrer Rolle nicht überfordert wurde. Ferner, ob ihr nicht ein Verhalten aufgezwungen wurde, daß das Kind auf jeden Fall überfordern muß, da es nur als Inkarnation für die existentiellen Fragestellungen des Regisseurs dient. Dabei wird Doillon nicht müde zu versichern, seine Hauptdarstellerin nur im Rahmen ihrer Auffassungsmöglichenkeiten belastet zu haben. Auch an der Rolle des schroffen Vaters scheiden sich die Geister. Sein brutales Verhalten, mit dem er die Tochter mit dem Tod der Mutter konfrontiert, schockiert in der Tat, doch sein Charakter ist vielschichtiger angelegt, als es auf den ersten Blick scheint. Genau wie Ponette hat auch er den Verlust längst nicht überwunden, läßt Trauer und Schmerz aber nicht zu und verschließt sich. Dabei ist auch er auf der Suche nach Trost, und wenn er zu Beginn Ponette das ebenso irrationale wie kindlich verständliche Versprechen abringt, niemals zu sterben, dann spiegelt diese Szene seine verzweifelte Suche nach Hoffung in einer Welt, die ohne eine spirituelle Sinngebung bar jeden Trostes scheint.

Ponette hingegen verkörpert eine extrem andere Position. Unterstützt von ihrer Tante und deren Kinder, befähigt durch ihre Unschuld und Reinheit zur direkten Zwiesprache mit Gott, sucht sie keinen Sinn in der Tragödie, sondern verlangt schlicht und trotzig die Rückkehr der Mutter. Denn was ist Allmacht wert, wenn noch nicht einmal diese kleine Bitte gewährt werden kann? In seiner Naivität spielt das Kind alle möglichen Gottesvorstellungen durch, wendet sich an den güten Vater ebenso wie an den allmächtigen Schöpfer, fleht zu dem im Himmel, der alles sieht und alles vermag und ihre Gebete doch unerhört läßt. Vielleicht hat der Vater ja doch recht, und Gott interessiert sich nicht für die Leiden der Menschen? Auf eine sehr kindgerechte Art fächert Doillon alle möglichen Glaubensvorstellungen und -zugänge auf und macht deutlich, daß auch der Imagination der Erwachsenen im Begriff und Begreifen der Göttlichkeit Grenzen gesteckt sind. Eine weitere Szene, die irritiert, ist die „leibliche Auferstehung“ der Mutter. Hier vereinen sich der Leidensdruck des Kindes und die Kraft des Glaubens zu einem nicht nur kindgerechten Märchenbild, sondern zu einer poetisch überhöhten Botschaft des Trostes. Erst als der „direkte Kontakt“ mit der Mutter ohne den Umweg über Gott hergestellt ist, kann das Kind anfangen loszulassen; es vermag, seine Trauer in den Alltag einfließen lassen, und kann so allmählich zur Normalität finden, in der die Trauer ihren Platz hat, das Leben jedoch nicht mehr lähmt. Doillon ist ein ebenso sensibles wie hochartifizielles Seelendrama gelungen, in dem weitgehend vom (Kamera-) Blickwinkel eines Kindes aus auf eine Welt geschaut wird, die nicht nur für Kinder so schwer zu verstehen ist und in der den Menschen Lasten aufgebürdet werden, die man mitunter glaubt, nicht tragen zu können. Dabei beschwört Doillon die Kraft des Glaubens und begibt sich in eine für heutige Zeit höchst angreifbare Position, weil kein Rückzug auf Materialismus, keine Rückendeckung durch philosophische Weltbilder mehr möglich ist. Folgerichtig stellt er ein kleines Kind und seine Altersgenossen ins Zentrum, denn ihnen ist kaum die Möglichkeit zur Flucht aus der Trauer gegeben. Sie empfinden ungefiltert und aufrichtig, sie lassen sich ohne Vorbehalte auf das Abenteuer Glauben ein. Damit wendet sich Doillon in der Tat nicht an ein kindliches Publikum, sondern versucht, existentielle Fragen einem erwachsenen Zuschauer aus (scheinbar) kindlicher Perspektive nahezubringen. Damit hat er einen wichtigen spirituellen Film geschaffen, dessen Botschaft man mehr als einmal überdenken sollte. Denn bei aller inszenatorischen Schlichtheit entstand ein Meisterwerk, das über den Tag hinaus Bestand haben wird; „Ponette“ ist ein kleines filmisches Wunder, das auffordert, an den Glauben zu glauben und die Hoffnung nie aufzugeben.
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