Zuflucht in Shanghai

Dokumentarfilm | Österreich/USA 1998 | 79 Minuten

Regie: Joan Grossman

Dokumentarfilm über die chinesische Stadt Shanghai als Zufluchtsort für knapp 20.000 europäische Juden in den Jahren 1937 bis 1949. Dabei wird das Flüchtlingselend ebenso sichtbar wie die politische Weltlage; zugleich wird eine versunkene Welt in Erinnerung gerufen. Das aufwendig recherchierte historische Film- und Bildmaterial verbindet sich eindrucksvoll mit der mitunter erschütternden Aussagekraft von Zeitzeugen. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
THE PORT OF LAST RESORT
Produktionsland
Österreich/USA
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Pinball Films/Extrafilm
Regie
Joan Grossman · Paul Rosdy
Buch
Joan Grossman · Paul Rosdy
Kamera
Wolfgang Lehner
Musik
John Zorn
Schnitt
Joan Grossman · Paul Rosdy
Länge
79 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Hier sei „der einzige Ort auf der Welt, wo man einreisen kann ohne Papiere, Passierscheine, eidesstattliche Erklärungen, Einreiseerlaubnisse, Visa“: Shanghai, seit den englischen Opium-Kriegen Freihafen und kolonialer Vorposten mit zwei westlichen Enklaven, dem internationalen Stadtteil und der „Französischen Konzession“, wo vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 50.000 Ausländer, meist Briten, Franzosen, Russen und Deutsche, lebten und über eine eigene Stadtverwaltung verfügten. In Europa breitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer aus: Knapp 20.000 europäische Juden suchten zwischen 1937 und 1949 Zuflucht in Shanghai, einer Vier-Millionen-Metropole, die in den 30er- und 40er-Jahren mit hoher Kriminalität, Glücksspiel und Prostitution, unsagbarer Armut und verschwenderischem Luxus einer babylonischen Kapitale glich. Um die Amerikaner nicht zu provozieren, duldeten die japanischen Besatzer nach ihrem imperialen Feldzug im Pazifik die neuen Zuwanderer vorerst aus taktischen Gründen.

Im Gegensatz zu Ulrike Ottingers „Exil Shanghai“ (1997) rückt dieser Kompilationsfilm die kosmopolitische Metropole und die Lebensbedingungen deutscher und österreichischer Flüchtlinge ins Zentrum. Drei Jahre lang trugen Joan Grossman und Paul Rosdy auf drei Kontinenten Archivmaterial zusammen: seltene Farbfilmaufnahmen eines amerikanischen Touristen aus Wien nach der „Reichskristallnacht“, Schmalfilme einer Familie von ihrer Schiffsüberfahrt nach Shanghai, 16mm- und 8mm-Amateurbilder von Flüchtlingen und chinesischem Leben in der Hafenstadt, Ausschnitte aus japanischen Propaganda-Filmen und amerikanischen Wochenschauen, Fotos, Schriften und Briefe von Betroffenen. Auch vier Zeitzeugen kommen zu Wort, deren Erinnerungen den durch Patina der Zeit entrückten historischen Filmaufnahmen Leben einhauchen: der Journalist Fred Fields, das Ehepaar Heppner und Siegmar Simon, der als Elfjähriger mit der Familie 1939 nach Shanghai kam und hier durch eine harte Schule des Lebens ging. Wenn auch diese Entkommenen und Gestrandeten von sich selbst und dem Schicksal ihrer Daheimgebliebenen erzählen, so vermitteln ihre Flüchtlingsberichte vor allem eine Ahnung davon, unter welchen Bedingungen sie sich in dieser ebenso schillernden wie erbarmungslosen Welt zwischen Okzident und Orient zurechtfinden mussten.

Obwohl in „Little Vienna“, dem jüdischen Viertel im Shanghaier Stadtteil Hongkew, die Lebenskosten niedrig waren und bald ein pulsierendes Leben mit Geschäften, Kaffeehäusern, Kultureinrichtungen und eigenen Zeitungen enstand, vegetierte ein Großteil der mittellosen europäischen Juden in einem Sammellager, das von den Mitgliedern der alteingesessenen jüdischen Gemeinde für die Neuankömmlinge eingerichtet wurde. Mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour 1941 spitzte sich die Lage zu, bis alle Juden 1943 im Ghetto eingesperrt und streng bewacht wurden. Nach Jahren zerfielen die Kleider, das Geld war aufgebracht, was den mittlerweile 16-jährigen Siegmar Simon dazu brachte, sich aus einem Stück Holz Schuhe zu machen. Die Ruhr grassierte in den beengten Unterkünften und riss die Mutter von Illo Heppner in den Tod. In dieser verzweifelten, auswegslosen Situation heiratete sie Ernst Heppner und nahm am Tag der Hochzeit zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Shanghai ein warmes Bad. Diesen erdrückend schweren Alltag teilten die europäischen Einwanderer mit der bitter armen chinesischen Bevölkerung. Dennoch war Shanghai nie ein Schmelztiegel: „Als wir nach China kamen, glaubten wir den Chinesen Geschäftsgebahren beibringen zu können. Aber in Wirklichkeit haben wir von ihnen gelernt“, berichtet die Berliner Emigrantin Annie Witting. Ihre Briefe bilden wie die Korrespondenz des Wieners Adolf Josef Storfer, der mit seiner Zeitschrift „Gelbe Post“ Sigmund Freuds Psychoanalyse unter den Exilanten propagierte, eine weitere Quelle der Chronik. In seiner Machart eher konventionell. vermittelt der Dokumentarfilm nicht zuletzt dank atmosphärisch dichter Musik von John Zorn hautnah ein Lebensgefühl aus einer versunkenen Welt. Die meisten Flüchtlinge kehrten ihr noch vor dem kommunistischen Umsturz 1949 den Rücken, wie Annie Witting, die 1947, unterwegs in ihre neue Heimat Australien, schrieb: „Man kommt sich wieder als Mensch vor und nicht mehr wie ein Flüchtling.“
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