Wer zum Teufel ist Juliette?

- | Mexiko 1995-97 | 93 Minuten

Regie: Carlos Marcovich

Der Film begleitet die 16jährige, in Havanna lebende Juliette mit der Kamera. Sie hat die Schule verlassen, weil sie in der staatlich reglementierten Bildung keinen Sinn sieht, und verdient gelegentlich Geld durch Liebesdienste für italienische Touristen. Träume und Sehnsüchte des Mädchens korrespondieren mit denen eines nur wenige Jahre älteren mexikanischen Models. Die Geschichten der beiden vereinen sich zum Bild junger, schöner, emanzipierter Frauen auf der Suche nach dem Sinn des Daseins. In der Art eines Videoclips montiert, wirkt der Film "wild" und ungebärdig; Originalität und Tempo behindern jedoch nicht die Möglichkeit, an Hand der vorgeführten Schicksale über Lebensziele und -wege nachzudenken. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
QUIEN DIABLOS ES JULIETTE?
Produktionsland
Mexiko
Produktionsjahr
1995-97
Produktionsfirma
El Error De Diciembre/Yolanda Andrade/Instituto Mexicano De Cinematografia Genesis/Estudios Curubusco Azteca/Betaimagen Digital/Resonancia/Ilugo Bals Fund
Regie
Carlos Marcovich
Buch
Carlos Marcovich · Carlos Taibo
Kamera
Carlos Marcovich
Musik
Alejandro Marcovich
Schnitt
Carlos Marcovich
Darsteller
Yuliet Ortega · Fabiola Quiroz · Obdulia Fuentes · Yolanda Barajas · Marco
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
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Diskussion
Stolz und steinern stehen die offiziellen Gebäude in der Altstadt von Havanna. Auf ihren Dächern weht die kubanische Flagge, und es sieht nicht unbedingt so aus, als ob sich hier jemals etwas verändern würde. Aber unten, am Malecon, der berühmten Uferpromenade, wo die Gischt über die Mauern spritzt, toben Kinder ausgelassen im Wasser: Zwei Bilder, die Carlos Marcovich zu Beginn seines Films gegeneinander montiert. Das versteinerte Kuba interessiert ihn in der Folge kaum; wohl aber die Anarchie und Kraft der Jugend, die sich durch nichts und von niemandem fesseln läßt. Seine Heldin ist die schöne 16jährige Juliette, ein Ausbund an Energie und Lebenslust. Das Mädchen wohnt in San Miguel del Padron; von außen betrachtet eine eher verrufene Gegend, in der die Menschen aber wie in einer großen Familie zusammenhalten. Hier lebt es gemeinsam mit der Großmutter, mit Onkeln, Tanten, Nichten, Neffen und Brüdern. Der Vater machte sich aus dem Staub, als Juliette ein Baby war; er arbeitet in den USA als Elektriker und Fernsehmonteur; die Verbindung zur Heimat hat er so gut wie abgebrochen. Die Mutter beging Selbstmord. Für Juliette ist das alles Vergangenheit, ihr Interesse gilt der Gegenwart.

Der in Argentinien geborene und in Mexiko arbeitende Regisseur Carlos Marcovich, der international durch Musikvideos auf sich aufmerksam machte, paßt den Stil seines Films der Lebensart seiner Hauptfigur an. Die Kamera ist, wie in einem überlangen Videoclip, in ständiger Bewegung, streift mit Juliette durch die Stadt, schaut mal in diese, mal in jene Ecke, oft auch aus extremen Perspektiven: Hundert Begegnungen in einem Moment. Häufig betont Marcovich die Anwesenheit der Filmtechnik, zeigt zum Beispiel den Tongalgen und bricht so die Illusion eines objektiven Reports. Schon wenn Juliette in einer der ersten Einstellungen mit einem Schwamm Wassertropfen von der Kamera wischt, macht er deutlich, daß er nicht auf eine konventionelle Dokumentation abzielt, sondern auf ein gemeinsames Spiel zwischen ihm und der Heldin, auf Nähe, Wärme, Berührung. Der Regisseur greift in das Leben Juliettes ein, sie aber auch in das seine. Der Film ist ein Flirt, eine Liebesbeziehung, wenn auch eine unschuldige, wie das Mädchen am Ende unterstreicht: „Ich habe nie mit ihm geschlafen, nie, nie, nie!“

Wer ist sie nun aber, diese Juliette mit den grünen Augen und der rauchigen Stimme? Kind oder Frau, Engel oder Hure, naiv oder schlitzohrig – oder alles auf einmal? Marcovich tastet sich durch Beobachtungen und Fragen an eine Antwort heran: Juliette hat die Schule verlassen, weil sie keine Lust hatte, dem staatlich reglementierten Bildungsweg zu folgen. Mit 14 wurde sie vergewaltigt; jetzt läßt sie sich gelegentlich von italienischen Touristen aushalten. Ihrer Bemerkung, daß sie lieber durch Prostitution als an Hunger sterben würde, bleibt unkommentiert: Juliette ist für Marcovich kein Gegenstand für moralische Diskurse, sondern eine schöne, freie, unabhängige Frau, die tun und lassen kann, was sie will. Auch Verwandte, Nachbarn und Freunde kommen zu Wort, in blitzartig montierten Szenen, die oft nur Raum für halbe Sätze lassen. Jeder fügt ein Bausteinchen zum Porträt Juliettes hinzu, und jeder erzählt auch seine eigene Geschichte: groteske, fantastische und berührende Momente, die sich zu einem Mosaik aus Dichtung und Wahrheit, Träumen und Hoffnungen zusammenfügen. Juliettes Tante etwa, die einmal Schauspielerin werden wollte, erklärt vor der Kamera die Stanislawski-Methode. Man müsse, sagt sie, im rechten Moment weinen und im rechten Moment lachen können. Oder der Bruder Michel, der im Gegensatz zu Juliette an Gott glaubt – und daran, daß der Vater nach Hause zurückkehren werde.

Als zweite Hauptfigur baut der Film eine andere junge Frau auf: Fabiola aus Mexiko. Wie Juliette hat auch sie grüne Augen; und wie die junge Kubanerin forscht auch sie nach ihrem Vater. Beide Frauen, die 1993 als Darstellerinnen für ein in Havanna entstandenes Musikvideo verpflichtet worden waren, eint jedoch noch etwas viel Grundsätzlicheres: der Wille, das Recht auf Freiheit auszuleben, die Suche nach dem Sinn der menschlichen Existenz, die Sehnsucht nach Geborgenheit und Glück. Die aufgedrehte, wirbelwindige Juliette hat in Fabiola eine introvertierte Schwester gefunden. Je massiver sich Marcovich in Juliettes Alltag einmischt, desto mehr verwandelt sich sein dokumentarischer Ansatz in eine Inszenierung. So filmt er ihren Vater in den USA, organisiert ein Telefongespräch und schließlich sogar eine Begegnung zwischen den beiden. Dabei sind die Aufnahmen aus New Jersey, im Gegensatz zu denen aus Kuba, größtenteils schwarz-weiß: ein Farbwechsel, der vor allem inhaltliche Gründe hat. Es ist Winter in den Staaten, und es ist, im direkten wie im übertragenen Sinn, für den Kubaner Victor ziemlich kalt. Zu den Spielfilm-Elementen zählt auch die Geschichte des Don Pepe, einem alten, ehemaligen Angestellten der Staatsbank, der eine Unmenge Anekdoten in seinem Kopf gespeichert hat und mehrfach mit zwei geheimnisvollen Taschen durchs Bild läuft. Ob sich darin jenes verschwundene Gold befindet, von dem Don Pepe zu berichten weiß, oder nur Kondome, wie Juliette behauptet? Der groteske „running gag“ bleibt unaufgeklärt. Am Ende nimmt Marcovich seine Heldin mit nach Mexiko, in Fabiolas Heimat. An den Säulen des Hotels Plaza in Havanna, in dem die italienischen Touristen wohnen, lehnt ein anderes junges Mädchen. Und der greise Don Pepe tanzt mit seiner Frau. Immer gehen die Geschichten weiter, und immer beginnen sie von vorn. Ein schöner, origineller, extrovertierter und dennoch nachdenklicher Film.
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