Ende der Geduld

Drama | Frankreich/Belgien/Deutschland 1998 | 87 Minuten

Regie: Florent Emilio Siri

Lothringen 1995: Ein 25-jähriger Bergarbeiter polnischer Abstammung gerät in die Auseinandersetzungen um die Schließung einer Zeche, während sein gleichaltriger Busenfreund, Sohn italienischer Einwanderer, dem Einfluss eines Mädchenhändlers zu erliegen droht. Vor dem Hintergrund einer wirtschaftlich bankrotten Region eingefangene Männerfreundschaft, die von zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Solidarität erzählt. Die unprätentiösen Hauptdarsteller und eine fast dokumentarisch beobachtende Kamera wiegen kleine dramaturgische Schwächen des Spielfilmdebüts auf, das die Kraft und Wahrhaftigkeit eines sich auf seine regionalen Bezüge verlassenden europäischen Kinos unterstreicht. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
UNE MINUTE DE SILENCE
Produktionsland
Frankreich/Belgien/Deutschland
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Film Oblige/K2/Lichtblick
Regie
Florent Emilio Siri
Buch
Florent Emilio Siri · Yves Ulmann
Kamera
Giovanni Fiore Coltellacci
Musik
Alexandre Desplat
Schnitt
Joëlle Dufour
Darsteller
Benoît Magimel (Marek) · Bruno Putzulu (Mimmo) · Rüdiger Vogler (Jäger) · Jean-Yves Chatelais (Stanis, Onkel v. Marek) · Andréa Schieffer (Journalistin)
Länge
87 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
epix (16:9, 1.85:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Wie schon „La Promesse“ (fd 32 891) und „La vie de Jésus“ (fd 33 347) kündigt auch „Ende der Geduld“ vom Wiederaufleben sozial engagierter Themen im frankophonen Film Europas und von der (Neu-)Entdeckung filmisch lang vernachlässigter Landschaften: der tristen Industriezentren Frankreichs und Belgiens. In Cannes erhielt dieses, in seiner gesellschaftlichen Anklage an Ken Loach, in seiner formalen Radikalität an die Dogma-Gruppe erinnernde Kino mit der Verleihung der beiden Hauptpreise an „Rosetta“ („Goldene Palme“) und „L’Humanité“ („Großer Preis“) nun auch seine offiziellen Weihen.

„Ende der Geduld“ entführt in das Jahr 1995 nach Freyming-Merlebach, dem Herz der Lothringer Kohleregion nahe der deutschen Grenze. Obwohl für die Unternehmensleitung die Schließung der Zechen schon beschlossene Sache ist, hält die Gewerkschaft die Information noch zurück. Einer ihrer Führer, Stanis, ruft die Arbeiter lediglich wegen des gestrichenen Weihnachtsgeldes zum Streik auf und weiht nur seinen Neffen Marek ein. Marek, Sohn polnischer Einwanderer, glaubt im Gegensatz zu seinem von Italienern abstammenden Kumpel Mimmo, mit dem er allabendlich durch die Kneipen und Bordelle diesseits und jenseits der Grenze zieht, an die Zukunft des Bergbaus. Trotz Mareks besonnener und Mimmos eher aufbrausender Art sind die beiden Freunde, die seit ihrem 16. Lebensjahr unter Tage arbeiten, unzertrennlich und kümmern sich liebevoll um den von der berufsüblichen Staublunge geplagten Freddie, Mareks Großvater. Als der zur Kleinkriminalität neigende Mimmo in die Fänge des homosexuellen Mädchenhändlers Jäger gerät, versucht Marek vergeblich, ihn zu warnen. Erst als Stanis in der Streiknacht die geplante Zechenstillegung bekanntgibt und es daraufhin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kommt, besinnt sich Mimmo, der sich schon mit Jäger auf dem Weg in eine „sorgenfreie Zukunft“ wähnte. Er wirft den Zuhälter aus dem Auto, fährt zu seinen Kumpels zurück und rettet den verletzten Marek aus dem Kampfgetümmel. Auch wenn den Bergleuten ein kurzfristiger Erfolg winkt, warten Marek und Mimmo die um ein Jahr verschobene Schließung der Grube nicht ab, sondern verlassen die Kohleregion.

Nach seiner 1992 entstandenen Dokumentation über die Minenarbeiter in Lothringen („La Mort Douce“) spielt auch Florent Emilio Siris ausgezeichneter Spielfilm-Erstling in jenem Milieu, zu dem er eine persönliche Beziehung hat. Dies verleiht dem Film auf der einen Seite Authentizität, die sich vor allem im fast dokumentarischen (Kamera-)Blick und in der wirklichkeitsnahen Inszenierung der Arbeits- und Sozialwelt seiner Protagonisten niederschlägt. Andererseits fehlt dem Autoren-Filmer Siri aber manchmal die nötige Distanz, so daß er nicht merkt, wenn unausgereifte Figuren wie etwa eine Fernsehreporterin den Fluß der Geschichte hemmen. Da die Journalistin dem Zuschauer auch keine emotionale Identifikation ermöglicht, bleibt sie ebenso wie die klischeehaft angelegte, wenn auch überzeugender gespielte Figur des Großvaters ein Fremdkörper in diesem eigentlich von einer Männerfreundschaft beherrschten Film. Benoit Magimel und Bruno Putzulu, beide 1997 für „Diebe der Nacht“ (fd 32 502) bzw. „Les Aveux de L’ínnocent“ als beste Nachwuchsdarsteller für den „César“ nominiert, spielen ihren Part so überzeugend, als wären sie tatsächlich zusammen durch dick und dünn gegangen. Dabei arbeiten sie wunderbar die Spannung heraus, die aus dem Zusammenprall eines eher naiven, unüberlegt Handelnden mit einem Charakter, der fest mit beiden Beinen auf dem Boden steht, resultiert, sich aber durch ihre emotionale Nähe immer wieder löst. Auch Rüdiger Voglers diabolisch-menschenverachtender Zuhälter ist eine neue Nuance in dessen vielfältigem Rollen-Repertoire. Wenn Siri manchmal auf dem schmalen Grat zwischen Betroffenheitskino und engagierter Gesellschaftskritik auszurutschen droht, holen ihn die genau beobachtende Kamera, die die ständige „Nacht“ des Films am Ende durch einen Hoffnungsschimmer aufbricht, und der mit viel Gespür für atmosphärische Stimmungen komponierte, sparsam und unaufdringlich eingesetzte Soundtrack wieder zurück. So überwiegen die Ehrlichkeit und das Talent des Filmemachers letztlich die kleinen (Anfänger-) Schwächen.
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