Literaturverfilmung | Finnland 1998/99 | 77 Minuten

Regie: Aki Kaurismäki

Ein Stummfilm nach einem finnischen Nationalepos. Erzählt wird die Geschichte eines verheirateten Paares, dessen makelloses Glück durch einen Verführer aus der Großstadt zerstört wird, indem er die Frau in seinen Animierbetrieb lockt und eine Tragödie herbeiführt. Eine gelungene Stilübung voller (filmhistorischer) Zitate. Die kraftvolle melodramatische Wirkung wird durch eine stilsichere musikalische Untermalung verstärkt, die die Stimmungslage der Charaktere unterstreicht. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
JUHA
Produktionsland
Finnland
Produktionsjahr
1998/99
Produktionsfirma
Sputnik Oy/YLE/TV 1 Co-Productions/Pandora/Pyramide
Regie
Aki Kaurismäki
Buch
Aki Kaurismäki
Kamera
Timo Salminen
Musik
Anssi Tikanmäki
Schnitt
Aki Kaurismäki
Darsteller
Sakari Kuosmanen (Juha) · Kati Outinen (Marja) · André Wilms (Shemeikka) · Esko Nikkari · Elina Salo
Länge
77 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Literaturverfilmung | Stummfilm
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Diskussion
Wenn man die bisherigen Filme Aki Kaurismäkis Revue passieren läßt, wundert es eigentlich nicht, daß der Meister des lakonischen Minimalismus nun auch jenem Genre seine Referenz erweist, dem er mit seiner „Reinheit des Geschichtenerzählens“ immer am nächsten gekommen war: dem Stummfilm. „Juha“ basiert auf dem gleichnamigen, 1911 erschienenen Roman des finnischen Nationalschriftstellers Juhani Aho (dt. Titel: „Schweres Blut“) und wurde – neben zwei Opern-Adaptionen (1922 und 1935) – schon dreimal für die Leinwand bearbeitet: 1920 drehte der hauptsächlich in Schweden arbeitende Greta-Garbo-Entdecker und -Ehemann Mauritz Stiller die erste Version, der Finnlands erster Regisseur von Weltgeltung, Nyrki Tapiovaara, 1937 eine zweite folgen ließ. Die dritte Verfilmung von Tovio Särkkä aus dem Jahr 1956 bildete sogar einen Meilenstein im finnischen Filmschaffen: der erste in Farbe produzierte Spielfilm. Kaurismäki hat die um die Jahrhundertwende spielende (Roman-) Handlung in die 50er Jahre verlegt: Der gehbehinderte Bauer Juha hat seine verwaiste Pflegetochter Marja geheiratet, und beide sind, wie ein Zwischentitel erklärt, „glücklich wie die Kinder“. Eines Tages bricht in die Idylle jedoch die Versuchung in Gestalt des Nachtclubbesitzers Shemeikka ein: Während Juha dessen liegengebliebenen Sportwagen repariert, verführt Shemeikka die Bauersfrau. Er lockt sie in die Großstadt, wo Marja als eine unter vielen Animierdamen in seinem Etablissement endet und wie eine Gefangene gehalten wird. Juha macht sich unterdessen auf den Weg, um mit Shemeikka abzurechnen. Das Showdown endet für beide tödlich, und Marja fährt zusammen mit ihrem gerade geborenen Kind dahin zurück, wo sie einst glücklichere Tage erlebte.

Sicher nicht ganz zufällig hat sich Kaurismäki diesen Stoff für sein „Stummfilm-Debüt“ ausgewählt, erzählt „Juha“ doch – nur seitenverkehrt – eine ähnliche Geschichte wie einer seiner Lieblingsfilme, Murnaus „Sunrise“ (fd 24 266). Und auch seinen anderen Favoriten aus der Stummfilmzeit erweist er hier seine Hochachtung: Als Marja an einem Wasserfall von Shemeikka verführt wird, treiben Griffiths „Broken Blossoms“ vorbei und legt sich Juha mit einem auf Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ (fd 8348) verweisenden, überdimensionalen Schraubenschlüssel ins Bett. Bei den Licht- und Schattenspielen der Kamera bedient sich Kaurismäki beim expressionistischen Stummfilm ebenso wie bei den verlangsamten Gesten der Schauspieler. Dann wieder bricht er diesen Stil, läßt seine Protagonisten herumfuchteln, als müßten sie einem Taubstummen erklären, was sie wollen, anstatt die Zwischentitel zu benutzen. Mit denen wiederum schlägt er manche Brücke zur „Moderne“ („Der ist zu alt für Dich – wirf ihn weg“), wie auch mit der Plazierung von nicht zeitgemäßen Gegenständen. So entnimmt Marja einem jener voluminösen amerikanischen Kühlschränke aus den 50er Jahren ein Fertiggericht, um es in einer Mikrowelle zuzubereiten und Juha lieblos vorzusetzen. Der guckt mit dem traurig-ungläubigen Blick eines „rund“ gewordenen Stan Laurel, während sie sich mit der grellen Schminke einer Stummfilm-Diva „behaftet“. Immer wenn Kaurismäki Bilder der Zärtlichkeit von Juha und Marjas Beziehung entwickelt, wenn ihre beiden Motorradhelme traut nebeneinanderliegen oder sie sich in den Teppich einrollt, um ihn nicht zu wecken, erreicht die Inszenierung eine anrührende Intensität. In den Szenen, in denen seine Figuren aber miteinander agieren, wirkt vieles hölzern und zerdehnt. Die Geschichte ließe sich auch gut in einem „Two-Reeler“ erzählen. Aber Kaurismäki braucht vier Rollen(-Akte), um sein Melodram zu beenden – vielleicht auch, um die, alle Stimmungslagen exzessiv auskostende, von einem 55köpfigen Symphonieorchester eingespielte Musikuntermalung auszukosten, in die er, den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm zitierend, ein paar Originalgeräusche einmontiert hat.

In einer Zeit, in der der Stummfilm sich mit seiner kleinen Fan-Gemeinde in die Cinematheken zurückgezogen hat und von der breiten Öffentlichkeit allenfalls noch als „Event“ im Zusammenhang mit Live-Orchestern wahrgenommen wird, könnte er über die zahlreichen Kaurismäki-Anhänger durchaus neue Freunde gewinnen. So gesehen wird „Juha“ nun zum wiederholten Mal zu einem Meilenstein des finnischen Kinos. (Vgl. Artikel in dieser Ausgabe.)
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