Nachtgestalten

Drama | Deutschland 1999 | 103 Minuten

Regie: Andreas Dresen

In der Nacht, in der der Papst zu einem (fiktiven) Besuch in Berlin weilt, findet eine Handvoll Menschen keine Ruhe: ein Stadtstreicher-Paar, ein junger Bauer vom Land, ein Angestellter, der einem afrikanischen Jungen begegnet. Alle sind auf der Suche nach Wärme, Geborgenheit und bescheidenem Glück, das sich in ihrem mühsamen Leben nur selten finden lässt. Die lose verwobenen Geschichten entwickeln ein tiefes Gespür für die Not und leben vom aufrichtigen Interesse an den Figuren. Ein mutiger Film voller Intensität und Lebendigkeit, der eine ungeglättete Annäherung an die Wirklichkeit wagt und ein nüchternes Bild häufig übersehener Randbereiche der deutschen Wirklichkeit zeichnet. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Rommel Film
Regie
Andreas Dresen
Buch
Andreas Dresen
Kamera
Andreas Höfer
Musik
Cathrin Pfeifer · Rainer Rohloff
Schnitt
Monika Schindler
Darsteller
Meriam Abbas (Hanna) · Dominique Horwitz (Victor) · Oliver Bäßler (Jochen) · Susanne Bormann (Patty) · Michael Gwisdek (Peschke)
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Heimkino

Die Extras beinhalten u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs.

Verleih DVD
Kinowelt/Arthaus (1.85:1, DD2.0 dt.) Pandora (neu gemastert)
Verleih Blu-ray
Pandora
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Diskussion
Wann saß man zuletzt in einem deutschen Film, dessen Ende man gerne hinausgezögert hätte, weil man von seinen Gesichtern und Geschichten nicht lassen will? Dabei ist Andreas Dresens Außenseiterdrama alles andere als „schön“ oder gefällige Kinokost. Hundert Minuten lang streunt er mit grobkörnigen, kontrastreichen Bildern durch eine regnerische Berliner Nacht, in der sich (fast) nur solche Gestalten herumtreiben, die die bürgerliche Welt höchst ungern zur Kenntnis nimmt: Obdachlose, Junkies, einsame Freier und verwahrloste Straßenkids, die mit ihrem Dasein wenig anzufangen wissen. Doch inmitten dieser tristen Ödnis entdeckt die Kamera Menschen, die einem nahegehen, Figuren, deren Schicksale berühren. Unmerklich zieht es einen an die zugigen Plätze, in Hinterzimmer und Abfertigungshallen, unmerklich läßt man sich ein auf die ständigen Streitereien, die kleinen großen Nöten und die Versuche, aus bedrängten Situationen kurzfristige (Aus-)Wege zu finden, die sich schon wenig später als Sackgassen erweisen. Das Geheimnis dieser unspektakulären Großstadtsplitter muß man in ihrer Intensität suchen, die sich – mehr noch als den Schauspielern und der (Hand-)Kamera – einer ausgesprochen mutigen Inszenierung verdankt: Statt „bigger than life“ wagt es Dresen, auf den Spuren des Neorealimus dem Menschlich-Allzumenschlichen selbst eine paar Augenblicke und Wahrheiten abzugewinnen, die in keinem Hochglanzprodukt zu finden sind.

Eine fiktive Klammer eint die lose verwobenen Geschichten und Episoden: Der Papst besucht Berlin. Hanna und Victor, ein junges Paar ohne festen Wohnsitz, würde der Ausnahmezustand kaum tangieren, wenn ihnen nicht ein Unbekannter 100 Mark geschenkt hätte, Geld, mit dem sie endlich einmal eine Nacht in einem Hotel verbringen wollen. Angesichts des Pilgeransturm aber entwickelt sich ihre Suche nach Bett und Dusche zu einer Odyssee, bei der schnell die Nerven bloßliegen. Auch den gutmütigen Bauernburschen aus Neubrandenburg zieht es aus anderen als frommen Gründen in die Stadt: Er sehnt sich nach Liebe, und sei es für Geld. Daß er ausgerechnet auf dem Babystrich landet und an die blutjunge Patty gerät, weckt allerdings weniger die Lust als sein weiches Herz. Peschke, ein älterer Angestellter, der es nicht bis in die Chefetage geschafft hat, soll eine japanische Geschäftspartnerin vom Flughafen abholen. Statt ihrer stößt er auf einen kleinen Jungen aus Nigeria, der offensichtlich nach Deutschland eingeschleust werden soll. Zuerst bezichtigt er ihn, seine verlorene Brieftasche geklaut zu haben, nimmt sich dann aber widerstrebend des stummen Knaben an und versucht, ihn zu der Adresse zu bringen, die das Kind in Händen hält. Eine Reihe weiterer kleiner Schicksale und Begegnungen am Rande ist in diese drei Hauptstränge geflochten, die allesamt eines eint: Keine der Figuren ist im herkömmlichen Sinne „kinotauglich“, weil ihnen der Geruch des Alltäglichen an den Kleidern haftet und ihre Erlebnisse während dieser Nacht kaum Aufsehen erregen. Zwar wird Peschke vor einer Kreuzberger Kneipe sein schmucker BMW geklaut, der am Ende an der Ostsee in Flammen aufgeht, wird das „Landei“ in einem besetzten Haus zusammengeschlagen oder eskaliert das permanente Hickhack zwischen dem Obdachlosenpaar in aller Drastik. Doch selbst in solchen Situationen wahrt Dresen den „dokumentarischen“ Duktus einer ungeglätteten Annäherung an die Wirklichkeit, ohne in die Klischees von Penner-Romantik oder der Sozialanklage zu verfallen.

Der Film ist in sich so gebrochen wie seine „Nachtgestalten“, die sich mit Widersprüchen, Kompromissen und vielen Niederlagen durch ihr bescheidenes Leben schlagen, neben dem ungestillten Verlangen nach dem eigenen Glück aber gelegentlich auch kleine Geste für andere übrig haben. Diese gegen den glatten Strich des Identischen gebürstete Haltung, die jede der Figuren liebend gerne zugunsten der Insignien des Bürgerlichen eintauschen würde, verleiht Dresen eine ihnen verwandte Sensibilität: Ohne sich im Elend zu suhlen oder die soziale Misere schlicht auszublenden, hält er die Augen offen und kann der Nacht Töne und Farben abgewinnen, die meist unsichtbar bleiben. Man kann an dem gewagten Streifzug viele Kleinigkeiten kritisieren oder überhaupt keinen Zugang zu ihm finden; wer sich jedoch vom rauhen Charme einer ungeschminkten (Großstadt-)„Normalität“ verführen läßt, wird mehr und Spannenderes über die Welt erfahren als in vielen sorgfältig konstruierten Sozial- und Psychodramen. So ist es nicht nur der mit einem „Silbernen Bären“ honorierten Spielfreude Michael Gwisdeks zu verdanken, daß sein gescheiterter Möchtegern-Yuppie bei aller Arroganz auch grundsympathische Charakterzüge an den Tag legt, sondern vor allem der genauen Figurenzeichnung, die seinen latenten, hemdsärmeligen Rassismus als weitverbreitetes Ressentiment zu erkennen gibt, bei dem sich so mancher Zuschauer ertappt fühlen dürfte. Bei allem lakonischen Dialogwitz, der an die „Dogma ‘95“-Gruppe erinnernden Kamera- und Lichtgestaltung sowie der „Short Cuts“-Dramaturgie vermag es Dresen mit bewundernswertem Geschick, eine „authentische“ Atmosphäre zu erzeugen, die von Einsamkeit und Erniedrigung in einer Sprache handelt, die aus den porträtierten Milieus erwächst. Auch die Hoffnung, die in allen Figuren ein karges, aber widerständiges Dasein führt, findet darin ihren jeweils angemessenen Ausdruck – und sei es in den pausenlos übertragenen Ansprachen Karol Wojtilas, dessen Botschaft der Liebe nicht etwa ironisch oder hämisch durch Baracken und Unterschlüpfe hallt, sondern als christlich-utopischer Anspruch einen weiten Horizont markiert.
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