Reise zur Sonne

- | Türkei/Deutschland/Niederlande 1999 | 109 Minuten

Regie: Yesim Ustaoglu

Ein unbedarfter junger Mann aus Anatolien, der sich in Istanbul als Hilfsarbeiter durchschlägt, wird durch einen unglücklichen Zufall der Willkür des Polizeiapparates ausgeliefert und mit der politischen Wirklichkeit im Lande konfrontiert. Als sein wenige Jahre älterer kurdischer Freund bei einer Demonstration zu Tode kommt, beschließt er, den Leichnam in dessen Heimatdorf im östlichen Grenzgebiet zu überführen. Die Reise führt durch ein verwüstetes, menschenleeres Land, dessen zerstörte Dörfer vom Ausmaß des Hasses zeugen. Ein ebenso subtiler wie mutiger Film, der die Kurdenproblematik mit keinem Wort anspricht, sie aber in fast jedem Bild erfahrbar macht. Darüber hinaus erzählt er vom leidvollen Reifungsprozess eines jungen Menschen, dessen (Selbst-)Bewusstsein durch erlittenes Unrecht gestärkt wird. (O.m.d.U.; Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
GÜNESE YOLCULUK | JOURNEY TO THE SUN
Produktionsland
Türkei/Deutschland/Niederlande
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Istinai Filmler Ve Reklamlas/Medias Res/The Film Company
Regie
Yesim Ustaoglu
Buch
Yesim Ustaoglu
Kamera
Jacek Petrycki
Musik
Vlatko Stefanovski
Schnitt
Nicolas Gaster
Darsteller
Newroz Baz (Mehmet) · Nazmi Oirix (Berzan) · Mizgin Kapazan (Arzu) · Ara Güler (Süleyman Bey)
Länge
109 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Über dem Bosporus geht die Sonne auf, ein neuer Tag beginnt in Istanbul. Das Leben in den Straßen und auf den Plätzen spiegelt den regen Alltag der Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen; nichts erscheint ungewöhnlich an diesem Morgen in der Großstadt an der Schnittstelle von Orient und Okzident. Im Hafen baut ein junger Mann seinen Stand mit Musikkassetten auf: Berzan. In einer abschüssigen Gasse sucht ein anderer, noch jüngerer Mann mit fast kindlichen Gesichtszügen mittels eines altmodischen Geräts nach einem Leck in einer unterirdischen Wasserleitung: Mehmet. Er tut dies im Auftrag der Wasserwerke, die ihm jenen seltsamen Detektor, eine Art Messingrohr mit Knauf, als Arbeitsgerät im Kampf gegen die permanent zusammenbrechende Wasserversorgung in der Stadt gegeben haben. Mehmet hat ein feines Gehör, mit dem er schnell das unterirdische Sprudeln des Wassers aufspürt – was sich unter der Oberfläche der Stadt sonst an Spannungen und Zerreißproben abspielt, nimmt der aus Anatolien stammende junge Mann indes nicht wahr. Selbst die täglichen Meldungen über einen Hungerstreik im Gefängnis bleiben für Mehmet nur Bilder im Fernsehen. Doch dann wird er während einer Busfahrt verhaftet. Minuten vorher hat er sich von seiner Freundin Arzu verabschiedet, jetzt hält die Polizei ihn für einen Terroristen, bezichtigt ihn des illegalen Waffenbesitzes. Obendrein spielt der ihn verhörende Kommissar unerwartet auf Mehmets allzu dunkle Hautfarbe an. Wo er denn überhaupt herkomme, wer seine Vorfahren seien – womöglich ist dieser störrische junge Mann gar ein Kurde?

In seiner „offiziellen“ Lesart ist dies ein ausgesprochen „privates“ Drama ohne sonderliche politische Brisanz: die tragische Geschichte dreier Personen und die unglückliche Verkettung ihrer Schicksale, die ihre Träume und Hoffnungen scheitern läßt. Wörter wie „Kurde“ oder gar „Kurdistan“ fallen nie. Ohnehin werden nur wenig Worte gemacht in diesem zunehmend sprachloser werdenden Film, der um so deutlicher die Sprache der Bilder, der Blicke und Gesten, aber auch der Landschaften und Ruinen sprechen läßt. In der Inhaltsangabe im Katalog der „Berlinale“ 1999 stammt auch Berzan, der Musikkassettenhändler, aus Anatolien; im Film selbst präzisiert er, daß er aus einem kleinen Dorf an der iranischen Grenze stamme und daß sein Vater umgebracht worden sei. Immer mehr Details deuten darauf hin, daß er als Kurde in Istanbul untergetaucht ist, aber weiter für den Untergrund arbeitet. Seine immer inniger werdende Freundschaft mit Mehmet, mit dem ihn sein Entwurzeltsein verbindet, will er aus allen politischen Gefahren heraushalten – was unmöglich ist, wie sich herausstellt. Schließlich ist Berzan tot, „irgendwie“ ums Leben gekommen, bei einer Demonstration, aber mit rätselhaften Verletzungen, die auch auf andere Einwirkungen hindeuten könnten. Dieser Schlag ist der Tiefpunkt für Mehmet. Ohnehin schon seiner Würde, seiner Hoffnung, seiner die Existenz sichernden Arbeit beraubt, waren allein seine selbstlose und außergewöhnlich selbstbewußte Freundin Arzu und eben Berzan sein Halt. Verfolgt von einer unsichtbar bleibenden Macht, erfährt Mehmet eine Art Brandmarkung: Mehrmals wird an die Türen seiner jeweiligen Unterkunft mit leuchtend roter Farbe ein großes Kreuz gemalt, gleichsam als Stigma: Hier lebt ein Kurde. Vielleicht ist es die kollektive „Macht“ der Angst, die die Menschen in der Stadt dazu treibt, den nächstbesten zu denunzieren und auszugrenzen, damit es einen nicht selbst erwischt. Denn in einem solchermaßen vergifteten Klima der Bedrohung, Bespitzelung und demonstrativen Staatsmacht kann es jeden Tag jeden treffen. Der Rückzug der Menschen in eine Art inneres Exil ist vielleicht der beklemmendste Ausdruck gesellschaftlicher Resignation. Mehmet indes, seines Hörrohrs beraubt, entwickelt allmählich neue Sensoren, um unter die Epidermis der Stadt und des Landes zu blicken. Immer seltener wird sein Lächeln, das scheu-verschämte Strahlen, wenn er Arzu seine Liebe gesteht; sein Gesicht spiegelt seine Empfindungen, die Wunden auf seiner Seele, präziser als jeder Dialog.

Im letzten Drittel reduziert sich die schlichte Fabel um drei archaisch anmutende Protagonisten endgültig auf Mehmet, der Istanbul verläßt, um den toten Freund in einem schmucklosen Holzsarg in die Heimat zurückzubringen. Mehmet läßt den urbanen Moloch hinter sich, jene sich in ihrer Zerrissenheit zwischen westlicher Orientierung, Großmachtträumen und Despotismus offenbarende Metropole. Aber auch seine Odyssee in Richtung Osten, seine „Reise zur Sonne“, beschert ein allzu trauriges Licht der Erkenntnis: erschütternde Bilder der Zerstörung, Vertreibung, der Entfremdung vom Leben. Je weiter Mehmet nach Osten vordringt, desto vernarbter wirkt das Land. Berzans Heimatdorf schließlich existiert nicht mehr: Aus der Oberfläche eines Stausees ragen nur noch einige Häuser heraus. Heimat, so das bittere Resumée des Films, ist zu einem Fremdwort geworden, das nicht einmal mehr als Erinnerung in die Gegenwart scheint. Man kann den Mut dieses außergewöhnlichen, immer eindringlicher werdenden Films nur bewundern, der verklausuliert sein mag, in dem man indes lesen kann wie in einem offenen Buch. Selten ermöglicht es einem das Kino, so unmittelbar, so intensiv die Mechanik einer menschenfeindlichen Politik zu verstehen.
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