- | Großbritannien 1998 | 97 Minuten

Regie: Mark Herman

Eine junge Frau, die seit dem Tod ihres Vaters kaum mehr spricht und sich in die Traumwelt von Revuestars zurückgezogen hat, deren Stimmen sie perfekt imitiert, soll vom Liebhaber ihrer schlampigen Mutter zum Gesangsstar aufgebaut werden, verweigert sich aber nach einem furiosen Auftritt. Tragikomödie über die Lieblosigkeit der Menschen und die Schäbigkeit der Lebensumstände, die das kleine private Glück als das große Los propagiert. Ein mitunter zwar recht derber Film, der indes vom überzeugenden Spiel seiner Hauptdarsteller lebt. Subtil geht die abwechslungsreiche Kameraarbeit auf die Charaktere der Protagonisten ein. Das inszenatorische Fingerspitzengefühl des Films entschädigt für einige dramaturgische Plattheiten. (Die instinktlose deutsche Synchronfassung nimmt dem Film viel von seiner positiven Ausstrahlung.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LITTLE VOICE
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Scala/Miramax
Regie
Mark Herman
Buch
Mark Herman
Kamera
Andy Collins
Musik
John Altman
Schnitt
Michael Ellis
Darsteller
Jane Horrocks (Little Voice/Laura) · Brenda Blethyn (Mari) · Michael Caine (Ray Say) · Ewan McGregor (Billy) · Jim Broadbent (Mr. Boo)
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
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Diskussion
In London feierte 1992 das Theaterstück „The Rise and Fall of Little Voice“ phänomenale Erfolge. Publikum und Kritik waren hingerissen von der Hauptdarstellerin Jane Horrocks, die Little Voice nicht nur ihren zerbrechlichen Charakter, sondern auch ihre gar nicht so kleine Stimme verlieh. Mark Herman, der schon in der Blechbläser-Tragikomödie „Brassed Off – Mit Pauken und Trompeten“ (fd 32 785) nicht nur musikalisches Gespür zeigte und der britischen Arbeiterschaft eine Bresche schlug, hat sich des Underdog-Dramas angenommen und großes, wenn auch nicht vollends befriedigendes Kino in Form eines musikalischen Kammerspiels inszeniert.

Erzählt wird die Geschichte von Laura, die unter ihrer ebenso dominanten wie vulgären Mutter leidet und seit dem Tod des Vaters die Sprache verweigert. Die junge Frau hat sich in ein Wolkenkuckucksheim zurückgezogen, geht ganz in der Vinylplatten-Sammlung des über alles geliebten Vaters auf: Ihre Vertrauten sind Marilyn Monroe, Shirley Bassey und Judy Garland. Ihnen lauscht sie mit nie enden wollendem Enthusiasmus, bei ihnen fühlt sie sich in ihrer Not verstanden, findet Fluchtmöglichkeiten und emotionale Heimat. Und wenn Laura das Herz vor kleinem Glück, das aus Einsamkeit und Trauer geboren wird, schier überquillt, singt sie mit ihren Idolen. Ein Seelenzweiklang, der ihre hysterische Mutter immer mehr auf die Palme bringt, und der Laura schon vor Jahren den Spitznamen „Little Voice“ eingebracht hat. Doch nicht einmal der wird ausgesprochen: Zu Hause heißt Laura schlicht und schmerzhaft LV. Ein Leben am Rande des verordneten Wahnsinns, dem sich die junge Frau immer wieder durch Erinnerungen an und Gesprächen mit dem Vater zu entziehen versucht, und dadurch das ihre zu ihrer Realitätsflucht beiträgt. Eines Tages überrollen die Ereignisse den Stillstand: LV lernt auf ihre scheue Art den schweigsamen Telefontechniker Billy kennen, einen passionierten Taubenzüchter, und die Mutter schleppt den Möchtegern-Impresario Ray Say an, mit dem sie akloholumflorte Nächte und Arbeitersiedlungssex verbinden und an dessen Liebe sie mangels anderer Chancen glauben will. Ray Say hört LVs Stimme und weiß, daß er einen Goldfisch an der Angel hat, der auch sein schäbiges Leben noch einmal verändern könnte. Doch der erste Auftritt in einem drittklassigen Tingeltangel-Schuppen scheitert an LVs Scheu. Erst als Ray Say seinen ganzen schmierigen Charme spielen läßt und eine Menge Lügenmärchen auftischt, ist die „kleine Stimme“ zu einem weiteren, ihrem ersten und letzten Auftritt bereit. Funktionieren kann dies allerdings erst, als LV die Vision hat, ihr Vater sitze unter den Premierengästen und sie würde allein für ihn singen. Unter diesen Voraussetzungen fährt eine perfekte Bühnendarstellerin, ja ein Vamp, in das Aschenputtel. Das Publikum ist begeistert, die Fachwelt alarmiert, und Ray Say und Konsorten wittern das große Geschäft – weniger für ihre Entdeckung als für sich auf ihre alten Tage. Doch alle haben die Rechnung ohne ihren Star in spe gemacht, der sich erschöpft und enttäuscht verweigert. Ein Abend, an dem eine Menge Träume zerplatzen, ist die Folge, aber ein dramatischer Wohnungsbrand bietet Gelegenheit zur Ausprache mit der zickigen Mutter, die allmählich selbst ihre tiefe Einsamkeit begreifen muß. Immerhin findet Little Voice ihre ganz persönliche Stimme im Aufschrei gegen das erlittene Unrecht wieder. Und außerdem gibt es ja noch Billy, den wackerenTaubenzüchter, dessen geliebte Taube Duane doch nicht in französischen Kochtöpfen gelandet, sondern glücklicherweise zurückgekehrt ist. Ein Happy End der kleinen Form, aber als zaghafter Anfang vielleicht doch das große Los.

Mark Hermans dritte Kinoregie bezieht sich auf die lange Tradition des proletarischen britischen Films, erinnert an Ken Loach, Stephen Frears, in seinen gelösten Momenten auch an die frühen Filme von Bill Forsyth, ohne deren Stil zu kopieren. Ein ganz eigentümliches, auch irritierendes inszenatorisches Flair liegt über dem Geschehen. Es gibt kaum etwas, was man nicht kennt, aber auch wenig, das man in seiner überdeutlichen Drastik so für sich stehen lassen möchte. Eine Welt, die Güte nicht mehr zulassen kann, weil schmierige Abziehbilder längst über Bord geworfener Ideale zu Wortführern der wahren (privaten Macht-)Verhältnisse geworden sind. In einer schäbig gewordenen Welt setzt sich Schäbigkeit durch, vielleicht oder gerade gegen jene, die das Liebste sein könnten. In Inszenierungsstil und Schauspielführung treibt Herman diese Weltsicht aufs Äußerste. Seine Kamera beobachtet Mutter Mari meist in der Untersicht, scheut sich auch nicht, unter ihre viel zu knappen Röcke zu schielen. Auch ihre Tingel-Tangel-Kumpane werden mit ihren verschwitzten Gesichtern meist schlaglichtartig von unten aufgenommen. Laura/Little Voice/LV hingegen widerfährt die Gnade der wohlwollenden Kamera: Ihr nähert sie sich sanft und zärtlich, bleibt meist auf Augenhöhe, signalisiert, das verstörte Kind nicht noch mehr verletzen zu wollen. Funktionieren kann dies natürlich nicht allein über die Kameratechnik, sondern setzt perfekte Schauspieler voraus, die sich in das weitgehend düstere Konzept ein- und unterordnen. Brenda Blethyn gibt die schon übersteigerte Karikatur einer Mutterschlampe mit keifender Stimme und kaum noch zu überbietender Egozentrik; Jane Horrocks, die – wie schon in der Bühnenfassung – in ihren Gesangsparts ebenso überzeugt wie in der Darstellung der ätherisch-verhuschten Tochter, gibt eine brillante Vorstellung. Die von ihr in Sekundenschnelle vollzogene Verwandlung von der grauen Maus zum Las Vegas-Star ist der Höhepunkt des Films. Doch auch Michael Caine als Schmieren-Impresario voller selbstverlogener hehrer Absichten besticht einmal mehr durch seine Darstellungskunst. Allein Ewan McGregor fällt ab, da für ihn zwar die Rolle des Erlösers vorgesehen ist, er sich aber mit der des bauernschlauen Taubennarren begnügen muß. Vielleicht sind es diese äußerst stringenten Typisierungen und die damit verbundenen Klischees, die „Little Voice“ bei allen Verdiensten zugleich auch anfechtbar machen, denn in ihnen schimmern noch die Bühnencharaktere durch, die sich in einer Theaterinszenierung binnen kurzer Zeit erschließen lassen müssen, im Film aber „alle Zeit der Welt“ haben.
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