Warten auf Harvey

Dokumentarfilm | Großbritannien/Deutschland 1999 | 93 Minuten

Regie: Stephen Walker

Dokumentarfilm über vier Filmemacher, die mit ihren Erstlingswerken 1998 zum Filmfestival nach Cannes reisen, um im "Mekka der Filmkunst" ihr Glück zu suchen. Eine sehr humorvolle Beobachtung, deren eigenwillige, nur auf den ersten Blick uneinheitliche Inszenierung sich zur genauen Charakterstudie der Protagonisten verdichtet, die ihre Träume, Hoffnungen und Neurosen sichtbar werden lässt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
WAITING FOR HARVEY
Produktionsland
Großbritannien/Deutschland
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Little Bird/Tatfilm/BR/WDR/BBC/RTE
Regie
Stephen Walker
Buch
Stephen Walker
Kamera
David Bennett
Schnitt
John Wilkinson · Chris King
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
In Cannes findet nicht nur alljährlich das wichtigste Filmfestival der Welt statt, für zwei Wochen in Mai wandelt sich die mondäne, ansonsten aber eher beschauliche Stadt auch zum größten Umschlagplatz für Filme. Während gut zwei Dutzend Filme im Wettbewerb um die „Goldene Palme“ wetteifern, werden auf dem Filmmarkt rund 2000 Filme für den internationalen Verkauf angeboten. Mehr als alle anderen Filmfestivals ist Cannes ein magischer Ort für alle, die in der Branche Fuß fassen wollen – der Platz, an dem Träume verkauft werden, ist für viele ein Traumplatz. Stephen Walker hat 1998 einige dieser Träumer beobachtet: Debütanten, die mit Filmen oder Filmprojekten, mit großen Erwartungen und unberechtigten Hoffnungen an die Croisette reisten, um sich ihren Traum vom Film zu verwirklichen. Da ist zum Beispiel Erick Zonca, der mit seinem Erstlingsfilm „Liebe das Leben“ (fd 33 380) in den Wettbewerb eingeladen wurde und durch den überraschenden Gewinn der beiden Darstellerinnen-Preise Filmgeschichte schrieb; oder James Merendino, der sich als Nachfolger Quentin Tarantinos sieht, mit „SLC Punk“ anreist und einem Vertrag über drei Filme nach Amerika zurückkehren wird. Weniger glücklich ist dagegen Mike Hakata, dessen Film „Two Bad Mice“ keinen Käufer findet, der aber glaubt, durch den ganzen Festivalrummel „zum Mann gereift“ zu sein; und da ist Stephen Lloyd, ein Taxifahrer aus East London, der mit zwei Kumpels ohne einen Pfennig in einem klapprigen Bus anreist, um 3,5 Mio. Mark für seinen Kiffer-Film „Amsterdam“ aufzutreiben. Auch er fährt unverrichteter Dinge zurück – immerhin hat er ein Gespräch mit Dieter Kosslik, dem Chef der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen, erreicht.

Walker weicht seinen vier Protagonisten nicht von der Seite, dokumentiert die Hektik und ihren Streß, ihre Aktivitäten und Strategien, ihre Wünsche und Hoffnungen und das gemeinsame Ziel, den mächtigen Miramax-Produzenten Harvey Weinstein auf sich aufmerksam zu machen. Dabei nutzt Walker das ganze Spektrum dokumentarischer Inszenierungsmöglichkeiten, wechselt vom konventionellen zum MTV-Stil, friert Bilder ein, verwendet Schwarz-Weiß- Material ebenso wie sehr grobkörnigen Film. Durch ungewöhnliche Kameraperspektiven, die manchmal nur „abgeschnittene“ Köpfe vor strahlend blauem Riviera-Himmel zeigen, manchmal nur Füße im Laufschritt, deren Besitzer für seine Vorführungen werben will und muß, findet der Film zu einem zunächst eigenwilligen Rhythmus, der sich bald aber als klug durchdachtes Inszenierungskonzept entpuppt; denn Walker versucht nichts weniger, als durch verschiedene Stile die Charaktere seiner Protagonisten und ihr Temperament augenfällig zu machen. Da sind der abgeklärte Zonca, der ruhig, konzentriert und geschäftsmäßig seinen Film begleitet; der zappelige Merendino, der mit seiner arroganten Selbstgefälligkeit auf die Nerven geht; Hakata, ein Rasta, dessen Selbstbewußtsein schwindet, je mehr er seine Felle fortschwimmen sieht; die Crew um Lloyd, die sich selbst nicht ganz so ernst nehmen kann und übergangslos von Geschäftstüchtigkeit zur Bierseligkeit wechselt. Walkers Dokumentarfilm nimmt sehr sachdienlich, weitgehend humorvoll, manchmal auch bissig und manchmal ein wenig boshaft seine Protagonisten ins Visier und läßt bei aller notwendigen Distanz erkennen, auf welcher Seite seine Sympathien liegen: gewiß nicht beim Gewinner oder beim Möchtegern-Tarantino, der sich freut, Cannes als Millionär zu verlassen, eher schon bei den Losern und Underdogs, die Anflüge von Panik zeigen, aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl machen und doch voller Hoffnung bleiben. Für diese Haltung trägt Stephen Lloyd ungewollt eine Szene bei: Sein Laster ist zugleich Werbemittel, zeigt an der Seite ein Cannabis-Blatt. Da Abbildungen dieser Pflanze in Frankreich nicht erlaubt sind, wird das Fahrzeug „umgemalt“: ein roter Kreis um das Blatt und ein Schrägstrich hindurch signalisieren nun ein Verbotsschild – alles andere als ein Kiffer-freundliches Signet. Aber vielleicht ist jetzt auch die Finanzierung für das Filmvorhaben leichter aufzutreiben.
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