Vom Fliegen und anderen Träumen

Drama | Großbritannien 1998 | 102 Minuten

Regie: Paul Greengrass

Von seiner Geliebten verlassen, zieht sich ein Mann zurück, um sich einzig seinem Traum der Konstruktion einer Flugmaschine zu widmen. Die Begegnung mit einer gelähmten Frau, die nur noch kurze Zeit zu leben hat, wird zur Herausforderung und zum Anlass, erstmals selbst Verantwortung zu übernehmen. Die junge Frau bittet ihn, ihr bei der Erfüllung ihres Herzenswunsches zu helfen, einmal mit einem Mann zu schlafen. Eine brillant geschriebene und gespielte Tragikomödie, der das Kunststück gelingt, über den Sinn von Leben, Sterben und Krankheit zu reflektieren, ohne je in Rührseligkeit zu verfallen. Leider trüben Schwächen der Inszenierung den gelungenen Gesamteindruck. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
THE THEORY OF FLIGHT
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Distant Horizon/BBC Films
Regie
Paul Greengrass
Buch
Richard Hawkins
Kamera
Ivan Strasburg
Schnitt
Mark Day
Darsteller
Helena Bonham Carter (Jane) · Kenneth Branagh (Richard) · Gemma Jones (Anna) · Sue Jones-Davies (Catherine) · Holly Aird (Julie)
Länge
102 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
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Diskussion
Richard Hopkins hat Probleme mit dem Erwachsenwerden. Unfähig, auf den eigenen Beinen zu stehen, hängt er dem alten Menschheitstraum vom Fliegen nach, wenn er sich nicht gerade seiner Kunst widmet, mit der er sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt. Als die bemutternde Geliebte ihn verläßt, reagiert Richard auf seine Weise: Mit selbstkonstruierten Flügeln springt er vom Dach eines Londoner Bürogebäudes. Natürlich reicht es nicht zum „Abheben“, und der „Flug“ endet nach wenigen Metern in einem Luftkissen der Polizei. Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses wird Richard zu 120 Stunden Sozialarbeit verurteilt. Den Traum vom Fliegen aber verfolgt er nur um so hartnäckiger: Eine leerstehende Lagerhalle auf dem Land wird zum Refugium und zur Werkstatt, in der aus allen möglichen Fundstücken und Resten ein Flugzeug entstehen soll. Mehr und mehr entwickelt sich Richard zum Einsiedler und Eigenbrötler. Nur die Sozialstunden verbinden ihn noch mit dem „richtigen“ Leben. Seine Aufgabe wird die Pflege der gelähmten Mittzwanzigerin Jane. Eine bei jungen Menschen seltene Erkrankung des Nervensystems zwingt Jane in den Rollstuhl, wobei ihre Sinnesempfindungen und ihre geistigen Fähigkeiten völlig „normal“ entwickelt sind. Die Krankheitsprognose ist eindeutig und erschreckend: Die junge Frau wird bald ihre Sprache verlieren und nicht mehr lange zu leben haben.

Für beide wird die Begegnung zur Herausforderung: Jane reagiert auf das gutgemeinte wöchentliche „Unterhaltungsprogramm“ meist genervt und gelangweilt; Richard tut sich mit der Verantwortung schwer. Wie soll er mit einer Frau umgehen, die äußerlich völlig hilflos, in ihrer sarkastischen Direktheit ihm aber mehr als ebenbürtig ist? Für einen Moment kommen sich beide nahe, als er Janes Drängen nachgibt und ihr die Fahrt auf einem Kettenkarussell ermöglicht. Das glückverheißende Abenteuer aber endet auf der Intensivstation eines Krankenhauses, und Richard ist drauf und dran, seine Aufgabe entnervt zu „schmeißen“. Bei einem gemeinsamen Abendessen eröffnen sich beide erstmals ihre verborgenen Träume. Richard nimmt Jane mit in seine Lagerhalle und präsentiert ihr seine Flugmaschine. Jane gesteht ihm, daß sie vor ihrem Tod noch einen großen Wunsch habe: einmal mit einem Mann zu schlafen. Wenn er, Richard, nicht derjenige sein wolle, müsse er ihr wenigstens helfen, den passenden Mann zu finden.

Die Begegnung eines äußerlich Gesunden mit einem Schwerkranken ist als Filmstoff nicht unbedingt neu oder originell: Tom Cruise und Dustin Hoffman in „Rain Man“ (fd 27 420), Robin Williams und Robert De Niro in „Zeit des Erwachens“ (fd 28 755) (die Liste ließe sich fortsetzen). Meist ist es der „Gesunde“, der von der Begegnung profitiert; indem er den Wert des Lebens an sich neu erfährt, indem er lernt, sein Dasein zu hinterfragen und sich aus selbstgewählten Sackgassen zu befreien. Darin unterscheidet sich „Vom Fliegen und anderen Träumen“ kaum von seinen Vorgängern. Was den Film dennoch höchst eigenständig und sympathisch macht, ist sein komisches Moment, das sich als roter Faden durch die Geschichte zieht und jeden Anflug von Rührseligkeit (nicht von Trauer!) im Keim erstickt. „Meinst du nicht, daß diese Erfindung ein bißchen spät kommt“, kommentiert Jane die Präsentation des Flugzeugs mit jener Mischung aus Einfühlungsvermögen und Ironie, die den Grundton des Drehbuchs und der brillanten Dialoge bestimmt. Auch bei der Suche nach dem geeigneten Liebhaber, die zunächst durch diverse Sozialeinrichtungen, dann durch die Londoner Rotlichtbezirke führt und schließlich bei einem eleganten „Mann für gewisse Stunden“ von Erfolg gekrönt ist, wird das absurd-komische Potential genutzt. Daß die „Erfüllung“ des Traums für Jane auf drastische Weise von dem abweicht, was sie sich versprochen hatte, wirkt nun um so schmerzlicher und glaubhafter.

Helena Bonham-Carter liefert als Jane abseits ihres üblichen Rollenrepertoires eine grandiose Vorstellung. Nie setzt ihr Spiel auf Rührung und Sentimentalität, nie auf Effekte, nie soll man die Figur wegen ihrer Krankheit mögen. Auch wenn man keine Minute lang vergißt, daß Jane nicht mehr lange leben wird, sieht man sich stets einer jungen Frau gegenüber, die auf erfrischende Weise spricht, wie ihr der Schnabel gewachsen ist und die ihren Schmerz – kaum anders als ihr Gegenüber – hinter einer gelegentlich schroffen Fassade versteckt. Kenneth Branagh glänzt – und das dürfte ihm schwer genug fallen – in erster Linie durch Zurückhaltung. Zeichnete sich der „Erfinder“ in seiner eigenen „Frankenstein“-Inszenierung (fd 31 111) durch manische Aktivität und übermäßige (Leinwand-) Präsenz aus, so haftet seinem Richard selbst angesichts der geliebten Flugmaschine noch etwas unfertig-jungenhaftes an. Wann immer sich die Inszenierung auf die beiden Hauptdarsteller verläßt (was zum Glück vor allem am Ende mehr und mehr der Fall ist) oder in Landschaftsaufnahmen schwelgt, ist „Vom Fliegen und anderen Träumen“ ein rundum gelungener Film. Leider erweist sich Regisseur Greengrass weniger souverän, wenn es um das Erzählen der äußeren Handlung geht. Allzu oft wird die Geschichte einfach unterbrochen, um minutenlang diverse Rocksongs mit beliebigen Aufnahmen von Autofahrten oder ähnlichem zu bebildern. (Eine Praxis, die man aus dem US-Kino kennt, wo auf diese Weise Soundtracks vermarktet und überforderten Zuschauern Denkpausen eingeräumt werden.) Ein in diesem Fall denkbar ungeeignetes „Stilmittel“, das aus der Intimität der erzählten Geschichte immer wieder herausreißt.
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