Kurt Gerrons Karussell

- | Deutschland/Niederlande/Tschechische Republik 1999 | 65 Minuten

Regie: Ilona Ziok

Porträt des jüdischen Schauspielers Kurt Gerron (1897-1944), der in den 20er Jahren zum Star des Berliner Theater- und Kabarettlebens avancierte, mehr als 70 Filme drehte, 1933 emigrierte, 1942 von den Nazis interniert und 1944 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet wurde. Der Film verknüpft Erinnerungen von Zeitzeugen Gerrons mit Liedern seines Lebens, die als atmosphärischer Beleg in die weitgehend chronologisch erzählte Biografie eingeflochten werden. Ausgiebig befaßt er sich mit dem Entstehungsprozeß des Theresienstadt-Films "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt". Thematisch überaus wichtig und interessant, gelingt es dem Film nur ansatzweise, das Material auch künstlerisch überzeugend zu verdichten. - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Niederlande/Tschechische Republik
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
TV-Ventures/Filmmuseum Amsterdam/Vera Vista/arte/SFB
Regie
Ilona Ziok
Buch
Ilona Ziok
Kamera
Jacek Blawut · Heiko Merten · Aicke Fricke · Antonin Danhil
Schnitt
Christina Graff · Silke Regele · Erik Mischijew
Darsteller
Bente Kahan · Ute Lemper · Ursula Ofner · Ben Becker · Max Raabe
Länge
65 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Externe Links
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Diskussion
Über die Chargendarsteller im Kino der Weimarer Republik schrieb Rudolf Arnheim den berühmten Satz: „Sie umranden das Spiel der Helden wie ein Barockrahmen ein Renaissancegemälde.“ Vermutlich hatte der Kritiker dabei auch Kurt Gerron vor Augen, jenen Tausendsassa, der mit kolossalem Körper und mächtigem Schädel, mit Zylinder und Zigarre über 70 Mal im Kino zu sehen war, darunter als Magier in „Der blaue Engel“ (1930) und in „Die Drei von der Tankstelle“ (1930). Besonders in zwei Rollentypen vermochte Gerron zu brillieren: als machtbesessener Herr der „besseren“ Gesellschaft, als Bankier, Direktor, Anwalt, und als nicht minder starker Herrscher der Unterwelt, als Gangsterboß oder Zuhälter. Der bildfüllende Routinier schlug eine Brücke zwischen beiden – ein auch soziologisch faszinierendes Phänomen. Solche Konstellationen näher zu untersuchen, leistet Ilona Ziok mit ihrem Film nicht. Schade, daß die Regisseurin weitgehend an der Oberfläche biografischer Abläufe bleibt, ohne die Tiefenschichten dieser Figur und ihres Lebens auszuleuchten. Andererseits ist es gut, daß neben Ullrich Kastens und Fred Gehlers Essay „Seine Gage war der Tod“ (1989 fürs Fernsehen der DDR gedreht) nun ein weiteres Filmporträt Gerrons existiert: Auch über 50 Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft kann es gar nicht genug Arbeiten wider das Vergessen geben.

Ilona Ziok versucht auf mehreren Ebenen, an Gerron zu erinnern. Sie forschte nach Zeitgenossen des Schauspielers, Kabarettisten und Regisseurs und befragte sie vor der Kamera: die im August 1997 verstorbene Camilla Spira etwa, die als Theaterelevin zu ihm aufblickte und ihn später, als beide im Lager Westerbork inhaftiert waren, näher kennenlernte: „Er war eitel, fühlte sich sicher wegen seiner Karriere.“ Die französische Aktrice Renée St. Cyr erzählt von ihrem Filmdebüt, das sie 1933 unter Gerrons Regie in Frankreich absolvierte, wohin er wegen seiner jüdischen Abstammung geflohen war. Die meisten der Zeitzeugen aber berichten aus jenen zwei Jahren, die Gerron im KZ Theresienstadt verbrachte. Hier zwangen ihn die Nazis, einen Propagandafilm zu drehen, der den Originaltitel „Dokumentationen aus einem jüdischen Siedlungsgebiet“ trug, später aber unter dem euphemistischen Namen „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ (1944) in die Geschichte einging. Die Genesis dieses Projekt wird, wie schon bei Kasten/Gehler, ausgiebig skizziert, unter anderem von dem tschechischen Kameramann Ivan Fric, der sich an erregende Details erinnert; etwa daran, daß für eine Szene mit Kindern Brot herangeschafft wurde, das freilich immer schon aufgegessen war, wenn die Dreharbeiten beginnen sollten. Gerron, von SS-Offizieren scharf bewacht, baute während des Filmens für sich eine Scheinwelt auf, zu der auch die Illusion gehörte, am Leben gelassen zu werden. Doch im Oktober 1944, noch vor dem Schnitt, pferchte man ihn in einen Waggon nach Auschwitz. Die Legende geht, daß er beim Aussteigen aus dem Zug auf die Frage des SS-Arztes Mengele, ob er arbeiten könne, geantwortet habe: „Nein, ich bin krank.“ Das war sein Todesurteil.

Eine andere Ebene der Erinnerung besteht aus Liedern jener Zeit, die von Max Raabe („Das Nachtgespenst“), Ute Lemper („Mackie-Messer-Song“) oder der beeindruckenden Bente Kahan („Theresienstadt“) gesungen werden. Chansons als emotionale Intermezzi und Belege für biografische Stationen und Gefühlswelten Gerrons. Auch der Titel des Films geht auf ein Chanson des Schauspielers zurück, das er für sein Theresienstädter Kabarett „Karussell“ verfaßt hatte. „Menschen haben Ambitionen, selbst wenn sie im Elend wohnen“, schrieb der trotz Müdigkeit und Verzweiflung noch immer lebenshungrige Akteur. Und: „Wir reiten auf hölzernen Pferden und werden im Kreise gedreht. Wenn schwindlig wir haltmachen werden, dann wird man erst seh’n, wo man steht...“ Auf der Hand hätte gelegen, daß Ilona Ziok dieses Chanson mit seinen finsteren Ahnungen nutzt, um ihrem Film einen emotionalen roten Faden zu geben, eine bündige dramaturgische Struktur zu schaffen. Leider geschieht dies nicht; statt dessen bleibt es bei einer konventionellen Aneinanderreihung von Fakten und Lied-Einschüben, die selten Originalität verrät. Überhaupt fielen Ilona Ziok nur wenige eigenständige künstlerische Lösungen für den Umgang mit ihrem Material ein; so, wenn ein Zeitzeuge berichtet, daß alle beim Fußballspiel in „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ zu- sehenden Kinder ermordet wurden, die Kamera dann über den heutigen, leeren Tereziner Platz schwenkt, während man aus dem Off die Stimmen der Menschen von damals hört. Hier erreicht der Film eine eigene Qualität. Wenig glücklich muß man wohl auch die Entscheidung nennen, immer mal wieder einen Erzähler vor die Kamera zu setzen, der die Lebensstationen Gerrons abhandelt. Das wirkt bieder und didaktisch. Ein zurückhaltender Off-Kommentar hätte dagegen die Möglichkeit geboten, noch intensiver mit Bildern umzugehen. Insgesamt ein achtbarer Fernsehfilm über ein wichtiges Thema – für die große Leinwand aber ist er ästhetisch mindestens eine Nummer zu klein.
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