Drama | Deutschland 1928 | 98 Minuten

Regie: Georg Wilhelm Pabst

Die vernachlässigte Frau eines Berliner Rechtsanwalts gelangt auf Abwege, als sie in den Strudel des Nachtlebens gerät und die Scheidung provoziert. Erst jetzt bemerkt das Paar, dass es sich noch immer liebt. Ein in stilistischer Strenge inszeniertes Kammerspiel, das klarsichtig die leeren Rituale der Figuren spiegelt und sowohl thematisch als auch in seiner formalen Souveränität erstaunlich zeitlos geblieben ist. Der Film galt lange Zeit als verschollen, liegt jetzt wieder in einer vollständig restaurierten Fassung vor. Für die Fernsehausstrahlung wurde er mit einer neuen kraftvollen Musik versehen, die ebenso packende wie skurrile Akzente setzt und das Geschehen eigenständig kommentiert. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1928
Produktionsfirma
Erda-Film
Regie
Georg Wilhelm Pabst
Buch
Adolf Lantz · Ladislaus Vajda · Helen Gosewisch
Kamera
Theodor Sparkuhl
Musik
Elena Kats-Chernin
Schnitt
Mark Sorkin · Georg Wilhelm Pabst
Darsteller
Gustav Diessl (Dr. Thomas Beck) · Brigitte Helm (Irene Beck) · Hertha von Walther (Liane) · Jack Trevor (Walter Frank) · Fritz Odemar (Regierungsrat Möller)
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Diskussion
Verschollene Filme sind wie Phantome. Man liest über sie, und doch bleiben sie körperlos. Georg Wilhelm Pabsts „Abwege“, 1928 unmittelbar vor „Die Büchse der Pandora“ entstanden, war solch ein Phantom, bis die Filmarchäologie diesen Schatz im Staatlichen Filmarchiv der DDR entdeckte. Enno Patalas setzte im Münchner Filmmuseum das nicht ganz vollständige Original-Negativ mit Hilfe eines Fragments aus der Cinémathèque Suisse vorläufig instand. Angeregt durch den Sender arte sowie unterstützt von der Stiftung Deutsche Kinemathek, ergänzte schließlich das Bundesarchiv/ Filmarchiv 1998 den Film um eine noch fehlende Rolle, die sich als Teil einer bruchstückhaften Kopie in der Fondazione Cineteca Italiana fand. Im Fernsehen ist das ehemalige Phantom jetzt zu begutachten.

Dr. Thomas Beck, vielbeschäftigter Berliner Rechtsanwalt, vernachlässigt seine junge Ehefrau Irene. Zögernd gibt sie den Avancen des Kunstmalers Walter Frank nach und probt mit ihm den Ausbruch aus der Langeweile ihres bisherigen Lebens. Der zahlungskräftige Dr. Beck weiß das Abenteuer zu verhindern, kann oder will aber Irenes Bedürfnissen nicht entgegenkommen. Allein taucht sie in den Strudel eines Nachtlokals ein und läßt sich von der süchtigen Anita Hadern zum Drogenkonsum verführen. Zufällig lernt Irene auch den Boxer Sam Taylor kennen. In Franks Atelier will Taylor endlich mehr als flirten, und nur die plötzliche Heimkehr des Kunstmalers bewahrt sie vor dem äußersten. Kurze Zeit später trifft auch Irenes inzwischen informierter Ehemann ein. Um ihn zu reizen, erweckt sie den Anschein einer eindeutigen Liaison mit Frank. Vor dem Scheidungsrichter sieht man sich wieder, doch weil sich das Paar immer noch liebt, steht der erneuten Heirat nichts im Wege.

Pabst seziert seine Figuren nicht, er schaut ihnen lediglich bei ihren leeren Ritualen zu. Das Auge der Kamera wird zum stillen, aber aufmerksamen Beobachter und verschafft gerade in seiner Strenge eine unverblümte Klarsicht. Die Qualität des Films bestätigt sich im Detail. „Warum läßt Du Dich so einsperren?“, fragen scheidende Gäste die unzufriedene Irene, die allein hinter den Scheiben der Pendeltür wie in einem verglasten Käfig zurückbleibt. Gleich dreimal und in klug rhythmisierten Abständen wiederholt Pabst dieses Bild der an der Tür verweilenden Ehefrau und rückt ihr von Einstellung zu Einstellung immer etwas näher. Bisweilen wirkt der Film wie ein Laborversuch, dessen Stärke darin liegt, die mondän verruchte Atmosphäre in bezwingender Sachlichkeit zu evozieren. Pabst verzichtet auf Melodramatik (selbst der vermeintlich durch eigene Hand getötete Thomas schläft nur) und inszeniert ein beinahe klinisches Kammerspiel, das jede Regung nüchtern zu protokollieren scheint. Dabei bringt er das Kunststück fertig, den Zuschauer weder abzustoßen noch zu langweilen, sondern zum Komplizen des schaulustigen Geschehens zu machen. Erotisch-laszive Blicke gehen hin und her, und das dekadente Treiben verliert sich im teils kindischen Amüsement, aber auch im entpersönlichten Rausch, der die fehlende menschliche Profilierung des einzelnen in einer sich selbst betrügenden Gesellschaft verstärkt. Glänzend führt Pabst nicht zuletzt seine Schauspieler, wobei Brigitte Helm die Anforderung der mal unbeholfen ängstlichen, mal gespielt verführerischen Ehefrau treffend erfüllt.

Aufmerksamkeit verdient auch die kraftvolle Musik, die für die Fernsehausstrahlung entstanden ist. Elena Kats-Chernin, eine 1957 in Usbekistan geborene Komponistin und heute in Australien ansässig, schrieb einen pulsierenden Soundtrack, der ebenso packende wie skurrile Akzente kennt und das ausgelassene Nachtleben mit schmissiger Tanzmusik illustriert. Häufig drängt die motorische Musik nach vorn, als wolle sie das Tempo des Films forcieren. In Wahrheit erhellt sie einen inneren Duktus des Films, der die leerlaufende Monotonie des Lebens als rastlosen Zug nahelegt. Perlende Klavierfiguren begleiten zu Beginn das gesellschaftliche Spiel, und sie kehren wieder, wenn Irene den Maler Frank in seinem Atelier aufsucht. Da wird die Musik auch oszillierend und schwül. Genauso holt die Komponistin erotische Spannungen an die Oberfläche und versteht es nicht weniger, im geeigneten Moment die Gangart zu drosseln. Bei der Begegnung mit der Drogensüchtigen nimmt sich die Musik zeitweise geheimnisvoll zurück, und wenn Irene nach ihrem nächtlichen Ausflug heimfindet, entspannen sich die Töne. Ruhe kehrt vor allem gegen Ende des Films ein. Neue Kraft schöpfend, bleibt die Musik auch in den abschließenden Gerichtsszenen gelassen und gibt sich doch unterschwellig erwartungsvoll. Ein klangfarblich schillerndes Nonett – bestehend aus Klavier, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabaß, Klarinette, Fagott, Schlagzeug und Akkordeon – hat Elena Kats-Chernin zusammengestellt, was dem Kammerspiel zugleich kammermusikalisch nahekommt und doch einer orchestralen Note nicht entbehrt. Dabei schafft die Komposition einen selbständigen Kommentar, inspiriert von einem Film, der sowohl thematisch als auch in der formalen Souveränität erstaunlich zeitlos geblieben ist.
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