Plätze in Städten

- | Deutschland 1997/98 | 117 Minuten

Regie: Angela Schanelec

Szenen aus dem Leben einer 19jährigen Gymnasiastin in Berlin, die auf der Suche nach einem Platz im Leben zwischen Schule und Freundin, ernüchternden Liebschaften und der schmerzhaften Abnabelung von der Mutter pendelt. Als sie von einer Schulreise nach Paris schwanger zurückkehrt, spitzt sich ihre Situation zu, ohne daß sich eine schnelle (Er-)Lösung bietet. In langen Einstellungen läßt sich der stille, kontemplative Film auf Stimmungen und Atmosphären ein, um ebenso subtil wie feinfühlig die Erlebniswelt der jungen Frau in einem lieblosen Umfeld zu beschreiben. Die rigorose gestalterische Strenge des Films fordert Geduld und Aufnahmebereitschaft, ermöglicht es dann aber um so intensiver, einer erzählerischen Klarheit zu begegnen, die fern aller vertrauten filmischen Konfektionen liegt. (teils O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1997/98
Produktionsfirma
Schramm Film/ZDF (Das kleine Fernsehspiel)
Regie
Angela Schanelec
Buch
Angela Schanelec
Kamera
Reinhold Vorschneider · Johnny Feurer · Florian Lücke
Schnitt
Angela Schanelec · Bettina Böhler · Chantal Laventure
Darsteller
Sophie Aigner (Mimmi) · Friederike Kammer (Mimmis Mutter) · Katie Eckerfeld (Mimmis Freundin) · Martin Jackowski (Christoph) · Jérôme Robart (Nicolas)
Länge
117 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
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Diskussion
„Mimmi ist 19 und steht kurz vor dem Abitur. Auf einer Klassenfahrt nach Frankreich lernt sie einen Mann kennen und verbringt die Nacht mit ihm. Zurück in Deutschland stellt sie fest, daß sie ein Kind erwartet. Sie macht sich erneut auf den Weg nach Paris.“ Wenn man die Handlung ihres Films erzählen würde, kämen nur diese wenigen Sätze heraus, erklärt Angela Schanelec, und das sei wahrscheinlich verwirrend, weil der Film ja fast zwei Stunden dauert. „Zwei Stunden sind aber sehr kurz, um einen Menschen kennenzulernen.“ Die 1962 geborene Regisseurin verlangt dem Zuschauer in ihrem zweiten Spielfilm (nach „Das Glück meiner Schwester“, 1995) ein hohes Maß an Geduld und Aufnahmebereitschaft für eine außergewöhnliche filmische Reise ab, die tief ins Innere eines Menschen führen kann. In extrem langen, mit starr positionierter Kamera aufgenommenen Einstellungen gelingt Angela Schanelec eine faszinierende Beschreibung des normalen Verlaufs der Ereignisse, die sich jeder Konvention der schematischen Verkürzung durch eine filmische Dramaturgie verweigert. Diese formale Radikalität hat freilich nie etwas Demonstratives oder gar Kraftmeierisches, entspricht vielmehr einem sanften, behutsamen Beharren auf der Beobachtungshaltung: Nichts aus dem Leben der 19jährigen Abiturientin soll erklärt, verständlich gemacht oder legitimiert werden, vielmehr soll der Betrachter bereit sein, sie verstehen zu wollen – was wichtiger ist, als sie wirklich zu verstehen.

Fast könnte man meinen, einem Dokumentarfilm zu folgen, wenn in den nahezu ungeschnittenen, statischen Einstellungen immer wieder dieselben Szenen einer Berliner Wohnsiedlung im kalten Frühwinter zu sehen sind, wenn man in aller Ruhe beobachten kann, wie sich Mimmi in ihr Zimmer zurückzieht, wie sie ein Butterbrot zubereitet und dabei einem Pop-Song lauscht, wie sie mit ihrer Freundin lange am Rand eines Schwimmbeckens tanzt oder wie sie, ganz zu Beginn, auf dem Schulhof einem unglücklich in sie verliebten Freund zuhört. Doch alle Szenen sind hochkonzentrierte, nahezu stilisierte Verdichtungen von Wirklichkeit, mit denen Angela Schanelec einfühlsam und wachen Auges einen äußerst tristen Alltag einfängt: Schule, Freundin, ernüchternde Liebschaften, ein Konflikt mit der an sich selbst leidenden, überforderten Mutter, der sich wiederum als nur ein Segment innerhalb weiterer scheiternder Familiensituationen darstellt. Immer wieder weitet sich, quasi am Rand der Bilder, der Blick auf andere Paarbeziehungen und familiäre Konstellationen, verweist auf debattierende, streitende oder schweigsam verharrende Menschen, die kaum mehr zu einem positiven Lebensausdruck fähig zu sein scheinen. All dies summiert sich zu einem Bild der stillen Frustrationen, der Desillusioniertheit, Apathie und Gefühlsleere, bei der keine Fähigkeit zur Kommunikation zu erkennen ist. Mimmi erscheint angesichts solch verfahrener Situationen geradezu als Lichtgestalt, an die sich die Kamera zwar nicht minder vorsichtig herantastet, um in ihrem Gesicht, ihrer Stimme oder ihrem Handeln dann aber doch deutliche Zeichen für Mut, Verstand und Fantasie zu entdecken, die den Betrachter sicher machen, daß sie in einer lieblosen Welt durchaus (über-) lebensfähig ist. Mit stillem, aber beharrlichem Selbstbewußtsein vermag Mimmi die Grenzen auf der Suche nach einem Platz in ihrem noch jungen Dasein auszuloten, wobei ihre Einsamkeit in vielen Szenen den Betracher fast schon schmerzvoll berührt. Gerade in jenen Szenen, in denen sie seelische wie auch körperliche Nähe zu ihrer Umwelt sucht und zurückgewiesen wird – als regelrecht erschütternd empfindet man die Reaktionslosigkeit ihres Fahrlehrers, mit dem sie schläft, der ihr aber keine Zärtlichkeit entgegen zu bringen vermag – , fühlt man sich an jene alte Liedphrase erinnert: „Alone together“ – mit jemanden zusammen und doch allein sein.

Mimmis Fahrten nach Paris sind nur kleine gedankliche Sprünge, die der Film mit jeweils einem lakonisch-knappen Schnitt unternimmt. Scheinbar ohne sonderliches Hinzutun der Regisseurin empfindet man beide Reisen extrem unterschiedlich: Der erste (Schulferien-)Aufenthalt erscheint beinahe abenteuerlich, Mimmi ist offen für Begegnungen und auch für Affären. Länger als vier Minuten dauert jene (nur durch zwei Schnitte rhythmisierte) Einstellung in der Métro, in der Mimmi einem jungen Mann gegenübersitzt, der seine anlehnungsbedürftige Geliebte neben ihm stoisch ignoriert – und fast meint man die Spannung dieser Situation knistern zu hören, aus der sich dann jene Liebesbegegnung mit Folgen entwickeln wird. Die neuerliche Rückkehr der inzwischen schwangeren Mimmi nach Paris empfindet man dagegen als quälerische Odyssee, die keine (Er-) Lösung bietet. Mimmi treibt durch die Nacht, hungrig, müde und mittellos, wartend auf den Vater des Kindes, ohne in am frühen Morgen dann wirklich anzusprechen. Sie beobachtet ihn aus der Ferne vom Treppenhaus aus, dann erlischt das Flurlicht, Sekunden später ist der Film zu Ende. „Give me a reason to love you!“, gib’ mir einen Grund dafür, daß ich dich liebe, hieß die Textzeile eines Songs, zu dem Mimmi kurz zuvor in einer Pariser Disco tanzte.

Ansonsten verhindert keine Filmmusik den Blick auf die Bilder, aber immer wieder einmal hört Mimmi solche Songs, die mehr über ihre Gefühlswelt aussagen als jeder Dialog. Ansonsten bedient sich Angela Schanelec eher der Stille als Element der Komposition und Mittel für Emotion. Darin ist sie eindeutig eine Seelenverwandte von Robert Bresson, an den ihr Film ebenso erinnert wie an Jean Eustache, dessen Dokumentation „Die Rosenkönigin“ (1979) wohl nicht von ungefähr kurz zitiert wird. Auch „Plätze in Städten“ ordnet sich den beobachteten Personen ganz unter, erscheint dabei nie selbstzweckhaft, sondern widmet sich vorurteilsfrei und neugierig zugleich der faszinierend „normalen“ Protagonistin. Ganz am Ende mag man sich an die erste Szene des Films zurückerinnern, jenen enigmatischen Dialog zwischen Mimmi und einem unglücklich in sie verliebten Freund. Dieser fragt immer wieder, ob sie ihn auch verstehe, ohne daß er signalisiert, daß auch er sie verstehen will; immerhin aber will er sie beobachten, ohne sie zu stören und ohne sie zu berühren, selbst wenn er sich dadurch zum Idioten macht. Im Nachhinein erscheint einem dieser junge Mann ein wenig als der ideale Betrachter des Films: Dieser betrachtet Mimmi zwei Stunden lang, ohne sie zu stören, und erkennt vielleicht mehr als er sich je hätte träumen lassen – auch wenn er sich dabei zunächst als „Idiot“ empfindet.
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