Drama | Belgien/Frankreich 1999 | 94 Minuten

Regie: Luc Dardenne

Porträt eines jungen Mädchens, das mit seiner alkoholsüchtigen Mutter am Rande einer belgischen Stadt auf einem Campingplatz haust und verbissen darum kämpft, einer geregelten Arbeit nachzugehen und nicht in die Verwahrlosung abzugleiten. Intensive Studie über eine seelische Verhärtung, die zugleich der westlichen Erwerbsgesellschaft einen Spiegel vorhält. Im "Dogma"-Stil gefilmt, enthüllt sich die scheinbar einfache formale Gestaltung als reflektiertes ästhetisches Verfahren, das eine Begegnung zwischen filmischer Wirklichkeit und jener der Zuschauer ermöglicht. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ROSETTA
Produktionsland
Belgien/Frankreich
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Les Films du Fleuve/ARP/RTBF
Regie
Luc Dardenne · Jean-Pierre Dardenne
Buch
Luc Dardenne · Jean-Pierre Dardenne
Kamera
Alain Marcoen
Schnitt
Marie-Hélène Dozo
Darsteller
Émilie Dequenne (Rosetta) · Fabrizio Rongione (Riquet) · Anne Yernaux (Rosettas Mutter) · Olivier Gourmet (Chef) · Bernard Marvaix (Campingplatzwart)
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Diskussion
Als David Cronenberg 1999 Jurypräsident in Cannes war, fühlte er sich von einem „kleinen“ belgischen Film so sehr in „Aufregung und Euphorie“ versetzt, dass er ihm den Weg zur „Goldenen Palme“ ebnete: „Rosetta“ von Luc und Jean-Pierre Dardenne. Es war das Jahr radikaler, kompromissloser Entscheidungen, die viele als Affront gegen die Branche empfanden, weil weder die Glamour-Fraktion noch die Filmkunst die wichtigsten Preise nach Hause trugen. Statt dessen rückte für wenige Augenblicke ein ungeschminktes, „armes“ Kino ins Zentrum der Öffentlichkeit, das angesichts sozialer Tristesse weder die Augen niederschlägt noch bei melodramatischen Wendungen Zuflucht sucht, sondern auf ein unbequemes vis-à-vis insistiert. Einer solchen Zumutung setzt sich niemand gerne aus, weshalb die „Goldene Palme“ ein guter Rückwind für einen Filmstart gewesen wäre, zumal die Hauptdarstellerin Emilie Dequenne auch noch als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde. In Deutschland aber zauderte Scotia-Chef Samy Weinberg Monat für Monat, weil er nicht wusste, wie er mit dem sperrigen Stück seinen Riesenerfolg von „Das Leben ist schön“ (fd 33 422) wiederholen konnte. Und da in die Produktion von „Rosetta“ auch nicht wie bei Lars von Triers „Dancer in the Dark“ (fd 34 476) ein mächtiger deutscher Filmförderer involviert war, fiel die Geschichte der rotwangigen Außenseiterin, die nichts sehnlicher wünscht, als innerhalb der bürgerlichen Normalität Fuß zu fassen, in Vergessenheit – ein ernüchterndes, eigentlich beschämendes Beispiel deutscher Filmkultur, das trotz der schlussendlich erfolgreichen Initiative des kämpferischen Berliner Verleihs Peripher Anlass für grundsätzliche filmpolitische Überlegungen bietet. Leider ist zwischen Bonn und Berlin derzeit niemand auszumachen, der ein solches Anliegen mit einer ähnlichen Hartnäckigkeit verfolgen würde wie die wortkarge, ein wenig pummelige Rosetta ihren Kampf um Arbeit und das Gefühl, dazu zu gehören. Mit der aus „Dogma“-Filmen bekannten Heftigkeit exponiert der Film seine Hauptfigur, indem die (Hand-)Kamera hinter der wütenden Jugendlichen her rast, die ihre Kündigung nicht akzeptieren will, brüllend nach ihrem Chef sucht, sich in der Toilette einschließt und an den Kleiderspinden festkrallt, bis sie schließlich von der Polizei gewaltsam vor die Tür gesetzt wird. Es genügen wenige Bilder, um mit der Machart des Filmes vertraut zu machen, der nahe an den Figuren bleibt, ohne aufdringlich zu sein, und ihren Handlungen meist in Realzeit folgt, ohne dass dabei die Spannungskurve sinken würde. Denn nichts erklärt sich hier von selbst, sondern verlangt auf Schritt und Tritt die Aufmerksamkeit und Empathie des Zuschauers, der mitdenken und -empfinden muss, wenn er etwas verstehen will. Dann kann er einem verschlossenen Energiebündel begegnen, das ständig rennt und mit seiner alkoholsüchtigen Mutter am Rande einer anonymen Stadt auf dem Campingplatz haust. Wie besessen kämpft Rosetta darum, nicht unterzugehen, stets außer Atem und mit leicht nach vorne fallender Haltung, als dürfe sie sich keinen einzigen Augenblick der Ruhe gönnen. Für eine geregelte Arbeit, den Inbegriff sozialer Anerkennung, würde sie alles tun, selbst ihren neuen Freund Riquet verraten. Obwohl sie jung ist, kann man ihr Alter schwer schätzen, weil die Härte, die das Leben und sie sich selbst abverlangt, keinen Platz für pubertäre Gefühle lässt. Nur in Ausnahmesituationen zucken altersgemäße Empfindungen über ihr Züge: wenn sie zum ersten Mal hinter dem Tresen einer Waffelbude steht, glüht sie förmlich vor Stolz; als sie von Riquet nach Hause eingeladen wird, ist mit einem Mal alle Abgeklärtheit verschwunden; vom Ertrinken in einem schlammigen Fluss bedroht, schreit sie in Todesangst wie ein Kleinkind nach ihrer Mutter. „Rosetta“ ist kein „Dogma“-Film, obwohl er diesen in vielem gleicht. Er hat etwas zutiefst Dokumentarisches an sich und ist doch reine „Fiction“, weil es im Kern um die Darstellung einer seelischen Befindlichkeit geht, die auf den zweiten Blick eine harte gesellschaftliche Anklage birgt: In Rosettas seelischer Verhärtung spiegelt sich nicht nur das Schicksal derjenigen, die aus der Zirkulationssphäre der Güter ausgeschlossen sind, sondern mehr noch die innere Physiognomie einer Lebensweise, die Glück in Kategorien des Habens definiert. Welche Fratzen sich hinter prosperierender Bürgerlichkeit verbergen können, wird in seiner ganzen Konsequenz am ehesten dort sichtbar, wo der illusionäre Charakter ihrer Versprechungen durchsichtig wird: am Rande, im wörtlichen wie übertragenen Sinn, weshalb der finale Anflug einer Wendung zum Besseren kein dramaturgischer Hechtsprung, sondern eher eine Art Gegenprogramm ist: Riquet, den Rosetta bei seinem Chef anschwärzte, um seinen Arbeitsplatz zu bekommen, taucht wieder auf, im richtigen Augenblick, weil unmenschliche Anstrengungen irgendwann wirklich ins Unmenschliche umschlagen. Wie schon in „La Promesse“ (fd 32 891) enthalten sich Luc und Jean-Pierre Dardenne dabei jedes pädagogischen Fingerzeigs, sondern vertrauen fast naiv auf ein Kino der puren Präsenz, das alles daran setzt, eine Begegnung zwischen der filmischen Wirklichkeit und jener der Zuschauer möglich zu machen. So wie die Kamera Rosetta anfangs ständig folgt und nur zögernd und langsam in eine frontalere Position schwenkt, ohne ihr je direkt ins Gesicht zu starren, öffnet sich auch der Raum um jenes Mädchen, das vom Leben und der Welt nicht mehr verlangt, als dazu zu gehören.
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