Drama | Frankreich 1999 | 147 Minuten

Regie: Bruno Dumont

Im französischen Flandern wird die misshandelte Leiche eines elfjährigen Mädchens gefunden. Einer der ermittelnden Polizisten, ein schlichter, einfältiger Mann, kommt darüber nicht hinweg. Eine filmästhetisch radikale, herausfordernde Meditation über eine Menschlichkeit, die sich nicht in sentimentaler Anteilnahme erschöpft, sondern um ihre Bezüge zum Begehren und zur Sexualität weiß. Der Film kommt mit einem Minimum an Handlung und Dialogen aus, weil er ganz auf die Kraft der sorgfältig komponierten Bilder vertraut. Darin liegt seine solitäre Größe, aber auch seine Zumutung, die vom Betrachter Geduld und den Willen zur schöpferischen Interpretation verlangt. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
L' HUMANITE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
3B productions/ARTE France Cinema/CRRAV/
Regie
Bruno Dumont
Buch
Bruno Dumont
Kamera
Yves Cape
Musik
Richard Cuvillier
Schnitt
Guy Lecorne
Darsteller
Emmanuel Schotté (Pharaon De Winter) · Séverine Caneele (Domino) · Philippe Tullier (Joseph) · Ghislain Ghesquère (Polizeichef) · Ginette Allegre (Eliane)
Länge
147 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Die Auszeichnungen für „L’Humanité“ in Cannes 1999 (u.a. „Goldene Palme“) stieß teilweise auf heftige Kritik, und nach Gründen für die ambivalente Reaktion muss man nicht lange suchen: Bruno Dumonts quälend lange Meditation über die Menschlichkeit ist eine cineastische wie inhaltliche Zumutung, der sich auch hart gesottene Kinogänger nicht jeden Tag aussetzen wollen. Der Film verfügt nur über eine rudimentäre (Krimi-)Handlung und kommt mit kaum mehr als einer Hand voll Dialoge aus. Der Rest sind Bilder, lange, sorgfältig komponierte CinemaScope-Einstellungen mit dem Hang zu Statuarischen, deren sorgfältige Lichtsetzung öfters die Grenze zur Malerei überspringt. Die Eingangssequenz ist dafür ein sprechendes Beispiel: Eine weite, nahezu tonlose Totale öffnet sich ins leicht hügelige Land, das bis zum Horizont gepflügt wurde. Dort schlängeln sich einige Bäume entlang, unter denen am äußersten linken Rand die Silhouette eines Menschen auftaucht, der vorwärts hastet, bis er mehr als die Hälfte der Leinwand durchquert hat. Nach einem harten Schnitt, mit dem auch die nahe Meeresbrandung zum ersten Mal hörbar wird, stolpert Pharaon De Winter mit starrem, angstvollem Blick an der Kamera vorbei, torkelt über die dunkelbraunen Schollen und stürzt zu Boden. Er wühlt sich in die Erde, als wollte er darin verschwinden, und bleibt liegen, bis aus der Ferne ein schwaches Piepsignal zu ihm dringt, das ihn in die Wirklichkeit zurückholt. Was den Mann so verstört hat, schockiert wenig später auch den Zuschauer: der entstellte Unterleib eines elfjährigen Schulmädchens, das vergewaltigt und ermordet wurde. Die rohen Aufnahmen schlagen vor die Stirn, entsprechen aber einem filmästhetischen Konzept, das in einem fast emphatischen Sinn auf die visuelle Ebene vertraut und das Filmbild als ikonografischen Bedeutungsträger rehabilitiert. Auch wäre die Hauptfigur Pharaon kaum fähig, seine Gedanken und Gefühle zu artikulieren, denn obwohl er im ländlichen Flandern im Nordosten Frankreichs als Polizist arbeitet, ist er ziemlich schwer von Begriff. Dafür ist seine Seele umso größer, die viel Anteil nimmt am Leid der Welt - und eine hoffnungslose Liebe zur Nachbarin Domino mit sich trägt, die er stumm beim Sex mit ihrem Geliebten beobachtet, um die überschüssigen Energien anschließend auf dem Rennrad abzustrampeln. Domino, eine ebenfalls wortkarge Fabrikarbeiterin, ist ihm durchaus freundschaftlich zugetan. Nach der Arbeit sitzen sie oft nebeneinander in der Abendsonne, am Wochenende unternehmen sie zu Dritt gemeinsame Touren, auch wenn Pharaon seine Abneigung gegen Joseph nicht für sich behalten kann.

Während sich die dilettantischen Ermittlungen in dem Sexualmord in die Länge ziehen und auch sonst wenig passiert, bleibt viel Raum, sich in die vom Sommerlicht warm ausgeleuchteten Tableaus zu versenken und in Pharaons enigmatischen Gesichtszügen zu lesen, aus denen große Augen wie bei einer antiken Maske leuchten. Dass er der reine Tor ist, der sich nach dem Tod von Frau und Kind (wieder?) bei seiner Mutter verkrochen hat, stört keineswegs: Erst so wird er zu „persona“, zur altgriechischen Tragödienfigur, durch die Dumonts Absichten hindurch klingen. Dumonts radikale Ästhetik ist - wie bei allen Ikonenmalern des Kinos - ihrem Wesen nach offen und vieldeutig: nicht viel mehr als eine (intensive) Einladung, sich in ein persönliches Verhältnis mit dem Kunstwerk zu setzen und auf dessen „Perspektive“ einzulassen, mit ihm dorthin zu schauen, worauf es deuten will. Das aber ist in aller Regel mühsam und im Kino ungewohnt; im Fall von „L’Humanité“ kommt erschwerend hinzu, dass der Film um das enge Verhältnis von Sympathie und Begehren kreist, die fließenden Übergänge von erotischen Berührungen, sexueller Emphase und manifester Gewalt markiert und mit Lust jene Grenzen verwischt, die das Normale vom Monströsen trennt. Auf der einen Seite erinnert Pharaon an eine Figur wie den alttestamentlichen „Gottesknecht“, der das Leid der Welt auf seine Schultern lädt: nicht willens und nicht fähig, nach dem Mord zur Tagesordnung überzugehen. Wenn er im kommunalen Garten seine Dahlien pflegt, schweift sein Blick auch Monate später immer wieder in die Richtung, wo die Tat geschah, bricht es manchmal stumm, manchmal laut schreiend aus ihm heraus, ein wundes Tier, dessen Verletzung nicht heilen will. Andererseits aber spürt Pharaon auch das Verlangen, seine körperlichen Grenzen zu transzendieren, sich aufzulösen, mit der Erde, einem Menschen oder etwas anderem zu verschmelzen - und die Ernüchterung, wenn nach einer kurzen Umarmung die Singularität wieder spürbar wird.

Da es in Dumonts puristischem Kino der Bilder nicht um individuelle Personen oder psychische Motive geht, braucht er keine Figur zu überlasten, die schweren Themen allein zu tragen. Die radikalsten, auch vieldeutigsten Bezüge bleiben „reinen“ Bildern überlassen, die nicht mehr eindeutig dem Blick oder Ausdruck einer Person zuzuordnen sind. So kehrt das Bildmotiv des geschändeten Schoßes als höchst irritierende Einstellung wieder, nachdem Pharaon Dominos Angebot, ihm zu Diensten zu sein, brüsk zurückgewiesen hat: als Bild der Versuchung, das man (Pharaon wie der Zuschauer) flieht, ohne genau sagen zu können, ob aus Angst, Überforderung, kindlichem Blickverbot oder in schmerzhafter Analogie zum Verbrechen des Anfangs. Der explizite „Sex“ jedenfalls, den Dumont in drei kurzen Szenen ins Bild setzt, ist eine harte, gewaltsame, anstrengende Arbeit der Körper, egal, ob sie der Zerstreuung, zur Bekämpfung von Langeweile oder zum Austausch zärtlicher Empfindungen dient: ein Kampf, roh und ohne jede Schönheit, wie die Menschen und das Land. Man muss solche Filme nicht mögen, die sich in ihrer asketischen Strenge den üblichen Erwartungen völlig entziehen, und sich auch ihren anstrengenden Exerzitien nicht aussetzen. Den Respekt aber und die Anerkennung einer solitären künstlerischen Leistung, die sich nicht zuletzt in der sorgfältigen Inszenierung äußert, sollte ihnen niemand verweigern. Vielleicht muss, wer gegen die Verkürzungen der trivialen „education sentimentale“ der Medien arbeitet, das schwer Verständliche wieder exponieren, um einem Begriff wie „L’Humanité“ (Die Menschlichkeit) eine schmerzhafte Weite zurückzugeben, die ihn aus der ideologischen Umfriedung des wertschöpfenden Bürgertums befreit.
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