Os Mutantes - Kinder der Nacht

- | Portugal/Frankreich/Deutschland 1998 | 117 Minuten

Regie: Teresa Villaverde

Drei portugiesische Kinder an der Schwelle zum Erwachsensein lügen und stehlen, sind immer in Bewegung, brechen aus Heimen aus, werden stets wieder gefasst - "Problemfälle" der Erziehungssysteme, wie es sie auch in anderen europäischen Metropolen gibt. Der Film begleitet sie ein Stück auf ihrem Weg ins Nichts und zeigt ihre Suche nach einem Zipfelchen Geborgenheit und Glück als harten Überlebenskampf, in dem es keinen Platz für romantische Sentenzen gibt. Ein kraftvoller, sich nachhaltig einprägender Film voller grandioser Bildeinfälle, die niemals manieristisch wirken. Der knappe, disziplinierte Erzählstil und die Leistungen der jugendlichen Hauptdarsteller runden das Gesamtbild eindrucksvoll ab. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
OS MUTANTES
Produktionsland
Portugal/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Mutante Filmes/JBA Production/La Sept Cinéma/Pandora Film/ZDF/arte/FMB Films
Regie
Teresa Villaverde
Buch
Teresa Villaverde
Kamera
Acácio de Almeida
Schnitt
Andrée Davanture
Darsteller
Ana Moreira (Andreia) · Alexandre Pinto (Pedro) · Nelson Varela (Ricardo) · Helder Tavares (Franklin) · Paulo Pereira (Zezito)
Länge
117 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
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Diskussion
Sie sind immer hungrig, ständig in Bewegung, stehlen und lügen, brechen regelmäßig aus und werden stets gefaßt. Sie hängen sich mit Vorliebe kopfüber aus fahrenden Autos und Zügen; gierig nach Leben, scheint ihnen das Leben selbst die Lust daran austreiben zu wollen. Andreia, Pedro und Ricardo sind drei Lissaboner Kinder an der Schwelle zum Erwachsensein, „Problemfälle“ der Erziehungssysteme, wie es sie auch in allen anderen europäischen Metropolen gibt. Der Film heftet sich an ihre Fersen, begleitet sie ein Stück auf ihrem Weg ins Nichts. Ihre Suche nach einem Zipfelchen Geborgenheit und Glück ist Überlebenskampf. Kein Platz für romantische Sentenzen. Während Pedro und Ricardo zu zweit durchs Leben trudeln, hat Andreia nur sich selbst. Ihr ehemaliger Liebhaber verleugnet sich, das gemeinsame Kind kommt auf der Toilette einer Tankstelle zur Welt. Ricardo wird erschlagen wie ein Hund; Pedro reißt den Pullover seines toten Freundes einer Stadtstreicherin vom Leib, trägt ihn fortan selbst, schreit den Namen des Getöteten hinaus aufs schweigende Meer.

Mit „Os Mutantes“ hat die Portugiesin Teresa Villaverde (Jahrgang 1966) einen unglaublich kraftvollen, nachhaltig wirksamen Film geschaffen. Grandiose Bildeinfälle, die niemals manieristisch wirken, ein knapper, disziplinierter Erzählstil und nicht zuletzt die Leistungen der jugendlichen Hauptdarsteller runden das Gesamtbild. Ohne Zweifel: Auf künftige Arbeiten dieser Regisseurin darf man viel Hoffnung setzen. Ihre Leistung beweist nebenbei auch, daß europäische Co-Produktionen nicht zwangsläufig einen indifferenten „Pudding“ ergeben müssen. Auch, daß der vielgeschmähte Autorenfilm nicht nur eine greifbare Zukunft hat, sondern geradezu die einzige Chance für eine fruchtbare Fortentwicklung des Mediums bietet.

Zunächst einmal fällt der Mut der Regisseurin zur Auslassung auf. Indem sie die einzelnen Episoden verkürzt, eben nicht ausspielt bis zur letzten emotionalen Konsequenz, schafft sie immer wieder Freiräume, in die das Assoziationsvermögen stoßen kann. Hier liegt eine äußerst effiziente Ökonomie des Erzählens vor, die den Protagonisten ihre Würde und den Zuschauern ihre Mündigkeit beläßt. Zum Beispiel jenes kleine szenische Detail nach dem Tod Ricardos: In dem Moment, da die Trainingsjacke am Körper der Stadtstreicherin ins Bild kommt, ist bereits ein ganzer Komplex von Geschehnissen erzählt, ohne daß diese selbst gezeigt werden müßten. Komplementär dazu Pedros Suche nach dem Freund: In böser Vorahnung fragt er andere Straßenkinder nach seinem Verbleib. Eines der Kinder spricht zum anderen: „Er weiß es noch nicht.“ Dieses entgegnet: „Er weiß.“ Eine solche Verknappung zeugt von seltener filmischer Begabung. Streng auch die ästhetische Form. Obwohl der Film nie gesehene Bilder findet, wirken diese doch nie gesucht; sie unterliegen stets einem konkreten funktionalen Zusammenhang. Musik wird nicht als Zierat eingesetzt, hat nur als Bestandteil der szenischen Situation ihre Berechtigung. Jene Gestaltungsmomente sind wohlgemerkt nicht Folge irgendeines übergestülpten Dogmas, entsprechen vielmehr der Handschrift einer autonomen Künstlerin. Besonderen Stellenwert nimmt die Arbeit mit den jugendlichen Darstellern ein. Die meisten von ihnen haben selbst eine „Karriere“ als Straßen- oder Heimkind hinter sich bzw. befinden sich mitten in ihr. Ganz dicht schließt die Kamera zu ihren Gesichtern und Körpern auf, entdeckt sie als Landschaften der Individualität. Ana Moreiras Leistung als schwangerer Teenager beispielsweise verschlägt regelrecht den Atem. Für die pubertierenden „Helden“ wird die Erwachsenenwelt absolut glaubwürdig als Feindesland gezeichnet, von dem sie (soweit sie sich nicht durch den Tod entziehen) doch unweigerlich assimiliert werden. Lissabon als Ort des Geschehens kommt ohne touristische Glanzpunkte aus, die abgelichteten Häuserfronten, Straßenkreuze und Rummelplätze wären ebenso in Paris, Berlin oder Moskau zu finden. Pedro und Ricardo einerseits, Andreia andererseits begegnen sich im großstädtischen Dschungel niemals direkt, streifen einander jedoch mehrfach um Haaresbreite. Gerade dadurch, daß ihre Lebenslinien fast beiläufig nachgezeichnet werden (eine schicksalhafte Verknüpfung nicht stattfindet und auch niemals in Aussicht gestellt wird), kann das universelle Potential des Stoffs entfaltet werden. Doch wie auch immer – mit analytischem Werkzeug allein kommt man dem Geheimnis von „Os Mutantes“ nicht bei: Seine von der ersten Einstellung an präsente Wahrhaftigkeit entzieht sich erfolgreich jeder Vivisektion.
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