Blinder Passagier

- | Niederlande/Usbekistan 1997 | 91 Minuten

Regie: Ben van Lieshout

Resigniert von den in ökonomisch und ökologischer Hinsicht katastrophalen Zuständen in seiner usbekischen Heimat, macht sich der ehemalige Direktor einer Fischkonservenfabrik als blinder Passagier auf den Weg Richtung Westen. In Rotterdam entwickelt er zu einer jungen Frau mit Kind allmählich eine intensive Beziehung, die jäh unterbrochen wird, als die Fremdenpolizei dem Emigranten auf die Spur kommt. Ein unspektakulärer Film, der dem universellen Wunsch nach Harmonie angemessen gerecht wird, indem er sich ganz auf die Figuren konzentriert. Schönheit gibt es weder in Usbekistan noch in Rotterdam, wohl aber in den porträtierten Menschen selbst. (O.m.d.U.; Preis der Ökumenischen Jury in Mannheim-Heidelberg 1997) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DE VERSTEKELING
Produktionsland
Niederlande/Usbekistan
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Egmond Film
Regie
Ben van Lieshout
Buch
Ben van Lieshout · Bert Bisperink
Kamera
Stef Tijdink
Musik
Harry de Wit
Schnitt
Rene Wiegmanns
Darsteller
Bekzod Muchamedkarimow (Orazbaj) · Ariane Schluter (Katharina) · Sjamoerrat Oetemratov (Orazbajs Vater) · Dirk Roofthooft · Rick van Gasel
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Die Bilder von mitten in der Wüste stehenden Schiffswracks sind bekannt, sie muten in ihrer Drastik fast wie ein wenig überzogene und damit banale Metaphern auf ökologischen Frevel an. Doch für die Bewohner der usbekischen Region Karakalpakstan in der Nähe des eingetrockneten Aral-Sees verkörpert diese apokalyptische Kulisse eine sehr konkrete Alltagserfahrung: zahlreiche Dörfer, deren Bewohner seit Generationen vom Fischfang gelebt haben, wurden durch die Umweltkatastrophe im wahrsten Sinne des Wortes entwurzelt, sind ihrer Bindung zu den Quellen des Lebens beraubt worden. Einem vergleichsweise „kleinen Film“ aus den Niederlanden kommt nun der Verdienst zu, sich dieses Schauplatzes und der darin lebenden Menschen angenommen zu haben. Dabei verhindert gerade die Konzentration auf ein individuelles Schicksal sowie deren glaubwürdige Universalisierung, daß „Blinder Passagier“ zum bloßen Vehikel für exotische Projektionen aus westlicher Sicht gerät. Regisseur Ben van Lieshout ist eine Etüde auf menschliche Wechselfälle gelungen, die über den Anlaß selbst noch hinauszugehen vermag.

Der noch junge Orazbaj war einmal Direktor der ortsansässigen Fischkonservenfabrik und ist es in formaler Hinsicht noch immer. Jedenfalls geht er jeden Tag zur Arbeit – obwohl es längst keine Fische mehr zu verarbeiten gibt. Die letzten Exemplare werden von ihm in Badewannen gehalten und fast konspirativ mit jenem Brot gefüttert, von dem die Menschen eigentlich selbst nicht mehr genug haben. Orazbajs Vater kann nicht davon lassen, seinen gestrandeten Fischerkahn betriebsbereit zu halten. Alle Versuche, ihn von seinem offenbar närrischen Tun abzubringen, scheitern. Die Arbeit am Boot stellt für ihn eine Form des Lutherschen Apfelbäumchen-Prinzips dar: Auch wenn allgemein die Zeichen auf Untergang stehen, beharrt der Alte auf der Möglichkeit, daß das Wasser doch noch einmal zurückkommen könnte. Ringsum herrscht sonst eher Fatalismus vor. Man lebt von einem Tag zum anderen und tröstet sich mit der Gewißheit, daß es nun viel schlimmer auch nicht mehr kommen kann. Anders Orazbaj: Unter Abschiedsschmerz trennt er sich von seiner zerstörten Heimat, schifft sich als blinder Passagier ein und landet statt im mythisch beschworenen New York in Rotterdam. Hier findet er per Zufall bei der Seemannsfrau Katharina und deren Kind Maarten Unterschlupf. Nach Wochen allmählicher Annäherung und wenigen Tagen zwischenmenschlicher Harmonie wird er von der Fremdenpolizei ausfindig gemacht und sofort nach Usbekistan abgeschoben. Zurückgekehrt in seine Heimat, sieht er diese mit völlig neuen Augen, wobei seine Ankunft im Dorf zu einer eindringlichen filmischen Variante des Gleichnisses vom verlorenen Sohn gerät.

Sicher, das Zusammentreffen Orazbajs mit Katharina wirkt ein wenig konstruiert; allzu zu schnell wird deutlich, daß es zwischen ihnen zu einer Liebesbeziehung kommen wird. Daß mit der Zweiteilung der Handlung eine doppelte Exposition einhergeht, stellt ebenfalls keine dramaturgische Zierde dar. Und überhaupt könnte man dem Film vorwerfen, seine Botschaft allzu geradlinig zu entwerfen: es gibt in dieser Konstellation eigentlich keine schlechten Menschen (selbst die Fremdenpolizei wartet mit Sympathieträgern auf). Allein den nebulös gehaltenen gesellschaftlichen, ökonomischen oder ökologischen Umständen wird Schuld zugewiesen, niemals Verantwortungsträgern selbst. Aber darum geht es nicht. Was den Wert von van Lieshouts Arbeit ausmacht, ist ihre allgegenwärtige Wahrhaftigkeit, ihr Vermögen, mit einfachen Mitteln direkt zum archetypischen Gehalt der Figuren vorzudringen. Hinzu kommt eine vorurteils- und klischeefreie Perspektive auf die vorgefundenen Schauplätze, sowohl auf die usbekischen als auch die niederländischen. Vielleicht liegt hier sogar der Schlüssel für das Gelingen des Unterfangens: mit wirklich „schönen Bildern“ kann und will dieser Film nicht aufwarten. Rotterdam steht in seiner Tristesse der orientalischen Heimat Orazbajs kaum nach – verschalte Industriestandorte hier, vom Wüstensand umwehte Insignien des Realsozialismus da. Dennoch ist Schönheit im Film allgegenwärtig. Sie existiert in den Menschen selbst, und nur dort.
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