Das letzte Kino der Welt

- | Argentinien/Spanien/Frankreich/Niederlande 1998 | 90 Minuten

Regie: Alejandro Agresti

Eine argentinische Taxifahrerin, die vom Leben in Buenos Aires genug hat, strandet in einem Dorf im Süden, dessen Bewohner sich jeder linearen Chronologie verweigern und zu keinem zusammenhängenden Gespräch fähig sind. Der Grund dafür: Im kleinen Dorfkino am Ende der Welt werden fehlerhafte Filmkopien ohne erkennbaren Zusammenhang vorgeführt. Ein Film voller Metaphern und Symbole, der die geistige und kulturelle Isolation Argentiniens während der Zeit der Diktatur augenfällig macht; zugleich eine faszinierende Hommage an das Kino und seine große emotionale Kraft. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
EL VIENTO SE LLEVO LO QUE | LE VENT EN EMPORTE AUTANT | DOOR DE WIND GEJAAGD
Produktionsland
Argentinien/Spanien/Frankreich/Niederlande
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
DMVB Films
Regie
Alejandro Agresti
Buch
Alejandro Agresti
Kamera
Mauricio Rubinstein
Musik
Paul van Brugge
Schnitt
Alejandro Brodersohn
Darsteller
Vera Fogwill (Soledad) · Fabian Vena (Pedro) · Angela Molina (Dona Mirta) · Jean Rochefort (Edgar Wexley) · Ulises Dumont (Antonio)
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
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Diskussion
Soledad, eine junge energische Taxifahrerin, hat von ihrem Leben in Buenos Aires genug. Statt ihren Wagen wieder bei der Firma abzugeben, fährt sie weg, immer weiter und weiter, bis in den extremen Süden Argentiniens. Ihre lange Fahrt endet mit einer Autopanne, und als sie die Einwohner eines kleinen Dorfs um Hilfe bittet, muss sie feststellen, dass diese hochgradig geistig verwirrt wirken: skurrile, schrullige Menschen, ein Ort voller unausgeglichener Seelen. Das Dorf ist von der Welt abgeschieden, es gibt kein Fernsehen, kein Radio. Die Außenwelt dringt nur über das alte Kino ins Dorf ein; ein Dorfkino als Friedhof abgespielter Kopien, denn hier am Ende der Welt kommen die Filme in einem erbarmungswürdigen Zustand an: Ganze Stücke fehlen, die Emulsion ist völlig verkratzt, die Rollen und Akte sind in falscher Reihenfolge zusammen geklebt. Dieses Chaos und die fehlende Kohärenz im Kino hat dazu geführt, dass sich auch die Zuschauer – also die Dorfbewohner – seltsam verhalten. Sie lehnen jede lineare Chronologie ab und sind unfähig, ein normales, zusammenhängendes Gespräch zu führen. Langsam findet sich Soledad mit dem Leben im Dorf ab, gewöhnt sich an die Skurrilitäten des Alltags. Aber der Kaufmann Aquiles will die Gemeinschaft in eine neue Zukunft führen und eine eigene Filmproduktion ins Leben rufen, um zumindest den Kindern und Jugendlichen wieder zur geistigen Gesundheit zu verhelfen. Wie die meisten Filme von Alejandro Agresti wird auch „Das letzte Kino der Welt“ von bizarrem Humor, überraschender Dramaturgie und skurriler Poesie bestimmt, ist darüber hinaus aber eine Hommage ans volkstümliche Kino, das Kinoerlebnis jenseits von Blitzlichtern, roten Teppichen und großen Stars. Agresti greift das alte Thema des Don Quijote auf: Leben und Verhaltensweisen, die sich an dramatischen Vorlagen orientieren; die vergilbten Heldenromane des Ritters von der traurigen Gestalt entsprechen heute den verkratzten, abgelaufenen Filmdramen. Dabei sind die Dorfbewohner keine blinden Konsumenten, sondern Kinogänger der besonderen Art – Zuschauer, die nicht nur passiv Reize empfangen, sondern selbst aktiv werden, selbst auf die andere Seite der Leinwand kommen wollen, um ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Dies sind Figuren, die ganz der Philosophie ihres Regisseurs entsprechen, für den Film und Leben untrennbar miteinander verbunden sind. „Das letzte Kino der Welt“ zeigt, wie sich ein Kosmos aus unvollständigen Fragmenten dramatisierter Wirklichkeit zusammensetzt – gerade aus den Unzulänglichkeiten der alten, zerschrammten unvollständigen Schwarz-weiß-Kopien entwickeln sich die Vorstellungen und Sehnsüchte der Zuschauer. Ein Kino in dieser ablegenen Landschaft ist eine faszinierende poetische Metapher für die ursprüngliche Kraft des Kinos, die fast romantische Vision von der Kraft der Geschichten aus Licht und Schatten und kaum eine Landschaft eignet sich so dafür, wie die von Licht und Schatten geprägten Weiten im extremen Süden Argentiniens. Für Agresti ist Patagonien aber auch eine Metapher für die Isolation und Abgeschiedenheit Argentiniens, die geistige und kulturelle Isolation in den Jahren der Diktatur und der Wirtschaftskrise: „Ein Land, das immer noch weit weg von den eigentlichen Zentren der Welt liegt. Das führt zu ständigen Fehlinterpretationen von vielen Ereignissen außerhalb von Argentinien, viele Dinge werden völlig verzerrt wahrgenommen. In diesem Sinne ist das kleine Dorf auch Metapher dafür, was im Moment in Argentinien passiert.“ Patagonien ist aber auch Symbol und Projektionsfläche für eine abgeschiedene Gegenwirklichkeit zum modernen, urbanen Argentinien von Buenos Aires. Der Süden, das ländliche Argentinien, ist eine faszinierend vielfältige Konstante im argentinischen Film: Als Inbegriff der pragmatischen Utopie in Adolfo Aristarains „Ein Platz auf dieser Welt“ oder als poetisches Niemandsland in Ciro Capelaris „Sin Querer – Zeit der Flamencos“ (fd 32 643) ist die raue Landschaft eine Projektionsfläche des Windes, tanzender und flirrender Sonnenstrahlen, die manchmal den grau bewölkten Himmel durchbrechen, der Pampas und weiten Grasflächen. In den formal und inhaltlich innovativen Filmen der jüngsten argentinischen Filmemacher ist Patagonien immer auch Metapher für die Illusion vom gescheiterten Aufbruch zu neuen Horizonten. Agrestis Film ist zugleich eine faszinierende Hommage ans Kino, an die Vorstellungskraft, an die Gefühle, Sehnsüchte und Projektionen, die es auslösen kann. Erinnerung an eine Zeit vor der Reizüberflutung, an Hoffnungen, Sehnsüchte, Projektionen jenseits medialer Geschwindigkeitsrekorde.
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