Nichts als die Wahrheit (1998/99)

Drama | Deutschland 1998/99 | 128 Minuten

Regie: Roland Suso Richter

Der seit Jahren tot geglaubte KZ-Arzt Josef Mengele kehrt in die Bundesrepublik Deutschland zurück, um sich den Behörden zu stellen und damit seiner Auffassung von Wahrheit Gehör zu verschaffen. Sein Biograf, ein ihm anfangs ablehnend gegenüberstehender Anwalt, übernimmt seine Verteidigung, um das Rechtssystem nicht von einem Massenmörder aushöhlen zu lassen, und muss sich zwischen beruflicher und menschlicher Identität entscheiden. Ein eindringlich gespielter Polit-Thriller, der die fiktive Geschichte geschickt mit realen gesellschaftlichen Zuständen verbindet, wobei er provokativ die Frage nach der Wahrheit stellt, den Zuschauer aber nicht mit eindeutigen Antworten entlässt. Die formal wie inhaltlich kongeniale Gestaltung zeugt von einem außergewöhnlich hohen Standard. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1998/99
Produktionsfirma
Helkon/Studio Babelsberg Independent/Edward R. Pressman Corp.
Regie
Roland Suso Richter
Buch
Johannes W. Betz
Kamera
Martin Langer
Musik
Harald Kloser · Thomas Wanker
Schnitt
Peter R. Adam
Darsteller
Kai Wiesinger (Peter Rohm) · Götz George (Baumgarten/Josef Mengele) · Karoline Eichhorn (Rebekka Rohm) · Doris Schade (Hilde Rohm) · Peter Roggisch (Heribert Vogt)
Länge
128 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Politthriller
Externe Links
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Diskussion
Bereits mit „14 Tage lebenslänglich“ (fd 32 462) hatte Roland Suso Richter bewiesen, dass man hierzulande durchaus in der Lage ist, dem amerikanischen Genrekino Paroli zu bieten. Mit „Nichts als die Wahrheit“ wagt er sich nun an den hierzulande vernachlässigten gesellschaftspolitischen Film und knüpft mit seinem Polit-Thriller an die Tradition der in den 60er- und 70er-Jahren so aufrüttelnden Werke von Francesco Rosi und Costa-Gavras an. Dabei vertauscht er deren nur leicht verschlüsselte Tatsachen-Ebenen mit einer fiktiven: „Nichts als die Wahrheit“ spinnt ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte weiter, um deren Aufhellung sich alle Regierungen der Nachkriegszeit allenfalls halbherzig kümmerten, bis es 1985 zu den Akten gelegt wurde. Damals hatte man in Brasilien die Leiche eines 1979 bei einem Badeunfall ums Leben gekommen Deutschen namens Wolfgang Gerhard exhumiert, um nachzuweisen, dass der Tote der bis 1949 unbehelligt in Deutschland lebende und dann mit Hilfe des Roten Kreuzes nach Argentinien „ausgewanderte“ KZ-Arzt Josef Mengele ist.

Mengele war durch seine medizinischen Experimente an lebenden Menschen berüchtigt geworden und wurde der „To-desengel von Auschwitz“. Richters Film lässt ihn weiterleben und ihn sich der Justiz stellen, um seiner Sicht der „Wahrheit“ Gehör zu verschaffen. Drehbuchautor Johannes W. Betz schrieb die amerikanische Story auf deutsche (Gerichts-)Verhältnisse hin um und musste dabei mit einem dramaturgischen Manko leben: Die publikumswirksamen Duelle zwischen Ankläger und Verteidiger, bei denen der Richter nur die Rolle eines Schiedsrichters einnimmt, sind dem deutschen Rechtssystem fremd. So sieht sich der Zuschauer in die Situation gedrängt, einer ungeheuer zynisch wirkenden, aus der Sicht des Angeklagten aber verständlichen Argumentationskette zu folgen. Das irritiert, lässt Aggressionen aufkommen, weil man sich eingestehen muss, damit ein Rechtssystem zu akzeptieren, dass jedem das Recht auf Verteidigung zugesteht und das schier Unfassbare möglich macht – nämlich den Freispruch. In dieselbe Konfliktsituation sieht sich der junge Anwalt Peter Rohm drängt, der mit seiner Frau, der Journalistin Rebekka, seit Jahren an einem Buch über Mengele recherchiert, aber noch keine einzige Zeile zu Papier gebracht hat. Seine Besessenheit, der Person, die in derselben Stadt wie er geboren wurde, näher zu kommen, belastet dabei immer mehr seine Ehe. Als er an seinem Geburtstag Mengeles SS-Uniform unter seinen Geschenken entdeckt, sieht er sich seinem Ziel näher. Noch in derselben Nacht wird er von einem dubiosen Verleger von Nazischrifttum namens Müller in eine Falle gelockt und in die argentinische Pampa verschleppt. Hier trifft er einen 87-jährigen Mann, der behauptet Josef Mengele zu sein, und wünscht, von Rohm verteidigt zu werden. Rohm lehnt ab, aber Mengele fliegt mit ihm nach Deutschland zurück, stellt sich den Behörden und beharrt weiter auf ihm als Verteidiger. Rohm sieht sich in einer Zwickmühle. Schließlich übernimmt er Mengeles Verteidigung, auch, um nicht zuzulassen, dass ausgerechnet einer wie Mengele das Rechtssystem zerstört. Andererseits ist er abgestoßen, zugleich aber auch neugierig auf die Begegnung mit der „Inkarnation des Bösen“. In seinen Plädoyers und Zeugenbefragungen muss er der perfiden Argumentationskette seines Mandanten folgen; Mengele will seine Experimente als „medizinische Forschung“ verstanden wissen, beschreibt Euthanasie als damals unter Kollegen gängige Praxis und will die von ihm in die Gaskammer Geschickten nur vor unmenschlichen Qualen bewahrt haben. Immer mehr schaut Rohm in die Abgründe der menschlichen Seele – auch in die seiner eigenen. Als sich der Prozess dem Ende zuneigt, muss er sich entscheiden, ob er ein guter Anwalt oder ein guter Mensch sein will.

Auch wenn die Gerichtsszenen im Mittelpunkt stehen, beschränkt sich der Film nicht auf das kammerspielartig aufbereitete Psychogramm einer menschlichen Bestie wie es Romuald Karmakar mit „Der Totmacher“ (fd 31 645) oder Theodor Kottula mit „Aus einem deutschen Leben“ (fd 20 568) schufen. Vielmehr bezieht Suso Richter geschickt die bundesdeutsche Gegenwart mit ein: Die Alt-Nazis und Hintermänner um den Verleger Müller erhoffen von ihrem Zeitzeugen die Bestätigung der von ihnen seit Jahren propagierten „Auschwitz-Lüge“. Als Mengele offen die Gaskammermorde zugibt, lassen sie ihn fallen und versuchen, ihn zu liquidieren. So sehen sich der „linke“ Rohm und seine Frau unversehens von Neo-Nazis beschützt. Aber der Film bedient nicht nur die gesellschaftliche Ebene, er weiß auch durch den dynamischen Schnitt sowie die intensive Kamera zu überzeugen, wobei Letztere mit außergewöhnlichen Perspektiven die Innenräume einfängt; geradezu physisch beklemmend ist Mengeles „Einmarsch“ in den Gerichtssaal. Zudem versteht die Inszenierung, starke emotionale Momente zu setzen, wie jene berührende Sequenz, in der Rohm erfährt, dass seine Mutter einen dunklen Fleck in ihrer Biografie im Dritten Reich aufzuweisen hat. Natürlich steht und fällt der Film mit dem (schauspielerischen) Duell zwischen Rohm und Mengele. Kai Wiesinger wächst dabei zusehends in seinen Charakter herein, und Götz George wird von der präzise führenden Regie genau in jenem Spannungsfeld belassen, das der Figur trotz ihrer ungeheuerlichen Verbrechen weder eine teuflisch-faszinierende Dimension zubilligt noch ihr die letzte Menschlichkeit versagt. Wohl tuend zurückhaltend – und deshalb überzeugend – passt sich George diesem Regie-Konzept an und bringt seine vielleicht beste Leistung seit seinem Auftritt als junger deutscher Soldat in Wolfgang Staudtes „Kirmes“ (fd 9 335). „Sein“ Mengele – und das macht den Film so brisant – ist einfach einer jener Karrieristen, die in jedem System ihre Pflicht erfüllen, wenn man ihnen die Macht dazu gibt. Und noch eins lässt einen mit einem Stück (konstruktiver) Wut im Bauch aus dem Film kommen: Es liegt immer noch viel im Verborgenen in diesem Land, in dem die Täter und ihre Epigonen nicht mit letzter Konsequenz daran gehindert werden, über ihre Opfer zu höhnen.
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