Es beginnt heute

- | Frankreich 1999 | 117 Minuten

Regie: Bertrand Tavernier

Im wirtschaftlich maroden Norden Frankreichs setzt sich der Direktor einer Vorschule mit großer Leidenschaft für die Kinder arbeitsloser Eltern ein. Obwohl er sich unermüdlich mit Behörden, Politikern und Sozialarbeiterinnen anlegt, kann er tragische Zwischenfälle nicht verhindern. Eine berührende, filmisch komplexe Reflexion über Arbeitslosigkeit und die Zukunft einer Gesellschaft, die ihren Kindern nicht einmal mehr die Grundformen zwischenmenschlicher Kommunikation zu vermitteln vermag. In der maßvoll idealisierten Hauptfigur ein durchaus realistisches Plädoyer für Verantwortung und Engagement des Einzelnen, das vor allem im Umgang mit den filmischen Perspektiven von einem durchdachten Konzept zeugt. (Preis der Ökumenischen Jury in Berlin 1999; Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ÇA COMMENCE AUJOURD'HUI
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Les Films Alain Sarde/Little Bear/TF1 Paris
Regie
Bertrand Tavernier
Buch
Dominique Sampiero · Tiffany Tavernier
Kamera
Alain Choquart
Musik
Louise Sclavis
Schnitt
Sophie Brunet
Darsteller
Philippe Torreton (Daniel) · Maria Pitarresi (Valéria) · Nadia Kaci (Samia) · Françoise Bette (Madame Delacourt) · Christine Citti (Madame Baudoin)
Länge
117 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
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Diskussion
Selten beginnt ein Film so unprätentiös und direkt wie Bertrand Taverniers komplexe Reflexion über die französische Gegenwart: Kleinkinder einer „école maternelle“, einer Art Vorschule für Zwei- bis Sechsjährige, füllen das CinemaScope-Format. Mitten unter ihnen sitzt Daniel, der Direktor, ein sympathischer, einfühlsamer, aber auch energischer Mann Anfang Vierzig. Scheinbar dokumentarisch schweift die Steadycam-Kamera über die Gesichter der Kinder, die ein neues Lied lernen, ohne auf einem zu verharren oder anzudeuten, in welche Kinoregionen der Film aufbrechen will. Wären die Aufnahmen nicht gestochen scharf und auf 35mm gedreht, geriete Tavernier schnell in den Verdacht, der „Dogma ‘95“-Manie zu huldigen, zumal die Kamerapositionen rasch wechseln und der Schnitt Diskontinuitäten zusätzlich akzentuiert. Aus der anfänglichen Irritation weist allein das Tempo einen Weg, mit dem die erzählerischen Konturen umrissen werden: Im Zentrum steht die Figur des Lehrers, der sich in einer kleine Stadt im verarmten Norden Frankreichs leidenschaftlich für seine Schule und die Kinder einsetzt. Dabei muss er sich nicht nur mit bürokratischen Vorgesetzten und überforderten Politikern herumschlagen, sondern wird immer wieder mit den erdrückenden Folgen der Massenarbeitslosigkeit konfrontiert: Rund ein Drittel der Bevölkerung in der ehemaligen Bergbauregion ist ohne Job. Was dies für den Alltag bedeutet, setzt Tavernier beiläufig, aber präzise ins Bild: Eltern bringen ihre Kinder nicht in den Hort, weil sie seit langem keinen Wecker mehr stellen, Neugeborene werden nach Charakteren aus amerikanischen Fernsehserien benannt, vielen fällt es schwer, einen lächerlich gering erscheinenden Beitrag (rund zehn Mark pro Trimester) aufzubringen, eine Mutter, die betrunken auf dem Schulhof strauchelt, läuft vor Scham davon und lässt ihr Baby zurück. Inmitten dieser Misere kämpft Daniel mit großer Geduld und einer fast übermenschlichen Willensanstrengung für das Wohl der Kinder, motiviert seine Kolleginnen, redet Vätern und Müttern ins Gewissen oder legt sich mit Sozialarbeiterinnen an, wenn sie ihren Aufgaben nicht nachkommen. Durch den übermächtigen Druck der Verhältnisse sind jedoch auch ihm enge Grenzen gesetzt, die tragische Verzweiflungstaten nicht verhindern können.

Das Außergewöhnliche an diesem bewegenden Drama ist, dass es jedes filmische Schema unterläuft und deshalb (begrifflich) schwer zu fassen ist. Die Etikettierung als „Sozialreportage“ bezieht sich auf den realistischen Duktus, mit dem sich Tavernier in seinen Dokumentarfilmen schon immer auf konkrete Wirklichkeiten eingelassen hat und hier einer „strukturschwachen“ Region Gesichter und Geschichten von Menschen verleiht, die ansonsten hinter sprachlichen Abstraktionen verschwunden bleiben. Die politische Brisanz der Inszenierung liegt in dem Nachdruck, mit dem er darauf aufmerksam macht, was über das Elend einer Generation hinaus auf dem Spiel steht: die Zukunft einer Gesellschaft, der es nicht mehr gelingt, ihren Kindern das Sprechen oder simple zwischenmenschliche Umgangsformen zu vermitteln. Gleichzeitig aber bleibt Tavernier bei keiner reinen Zustandsbeschreibung stehen, sondern weitet das Dokumentarische bruchlos ins Fiktionale, indem er mit seinen Schauspielern und Laiendarstellern lebendige Figuren kreiert, mit denen sich die Zuschauer nicht nur in die erbärmliche Realität einfühlen, sondern auch über sie erheben können. Der beschwörende, fast imperative Titel des „Es beginnt heute“ zielt nicht allein auf die Zukunftschancen der Kleinen, sondern richtet sich mehr noch an die Verantwortung jedes Einzelnen.

Tavernier ist abgeklärt genug, um auf die Widersprüche der Gegenwart keine schlichten Antworten zu präsentieren. In mehreren kurzen Szenen streift der den politischen „Großkontext“, wenn der Kultusminister von neuen Technologien als Chance für die Region fantasiert oder der kommunistische Bürgermeister die Streichung von Essenszuschüssen mit dem Argument verteidigt, dass ihm die Sozialausgaben mehr als die Hälfte seines Haushaltes auffressen, ohne dass solche Äußerungen plakativ karikiert würden. Doch auch wenn wohlfeile Ideologien momentan aus der Mode gekommen sind, vermögen Einzelne das Schicksal ihrer begrenzten Welt zu beeinflussen, wenn sie nicht allein um ihre (klein-)bürgerliche Existenz kreisen. In Daniel führt Tavernier exemplarisch vor Augen, was ein beherztes Engagement bewirken kann. Dass seine (Kino-)Figur mit ihren Höhen und Tiefen, Stärken und Schwächen dabei nur in Maßen idealisiert erscheint, verleiht ihrem beispielhaften Charakter umso höhere Relevanz.

Was „Es beginnt heute“ über die inhaltliche Dimension hinaus zu einem wirklich großen Film macht, ist seine (nicht nur filmische) „Perspektive“. Tavernier gestattet sich und seinem Kameramann zwar kleine Ausnahmen, entwickelt die Handlung aber relativ konsequent aus der Sicht Daniels. Dessen Biografie, sein Alltag und seine Beziehung mit der Bildhauerin Valéria sowie seine schriftstellerischen Ambitionen, die als „voice over“ eine zweite, fast autonome Ebene im Film darstellen, umschreiben ein Dasein, das in seinen Grundzügen von dem der Zuschauer nicht weit entfernt sein dürfte. Der Blick Daniels allerdings bleibt bei aller Solidarität und trotz der gemeinsamen Herkunft aus der Region im Grunde einer von „außen“: weder Kind noch arbeitslos oder von der Sozialhilfe abhängig. Diese bleibende Diskrepanz setzt die Kamera in Bilder um, die bei aller Nähe zugleich auf Distanz bleiben. Tavernier erlaubt es den Zuschauern nie, sich an Elend oder Verwahrlosung zu „delektieren“, sondern wahrt die Würde der Betroffenen gerade durch seine reflektierte Bildsprache – wodurch sich seine Arbeitsweise konzeptionell ebenso von den „Dogma“-Werken unterscheidet wie auch einem platten Realismus in der Linie des „direct cinema“. Was bei ihm „verwackelt“ und „unruhig“ erscheint, resultiert aus Daniels Unruhe und den Brüchen einer Wirklichkeit, die sich in keinem Bild, schon gar keinem schönen, eindeutig widergeben lässt.
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