Julias Wahn

- | Deutschland/Niederlande/Dänemark 1999 | 90 Minuten

Regie: Hannes Schönemann

Im "Sommer der Liebe" 1969 lernt der DEFA-Filmemacher Hannes Schönemann an der Ostseeküste die dänische Kommunistin Julia Szabad kennen. Ihre Liebesbeziehung befindet sich von Beginn an im Fokus diverser Geheimdienste, geht einher mit Verhaftung, Paranoia und Tod, mündet in den Selbstmord der Dänin. Zahlreiche Momente dieses Geflechts aus Stasi und Geheimdiensten, auch aus der Vermischung von Wahn und Realität, bleiben letztlich ungeklärt. Schönemann geht es in seinem dokumentarischen Film weniger um eine "investigative Recherche" als um einen Gegenentwurf zum menschenverachtenden Taktieren verselbstständigter politischer Apparate. Entstanden ist eine radikale persönliche Exkursion in die eigene Vergangenheit, in der sich sowohl hochdramatisches Material als auch widersprüchliche Zeitgeschichte brechen. (Teils O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Niederlande/Dänemark
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
MA.JA.DE
Regie
Hannes Schönemann
Buch
Hannes Schönemann
Kamera
Thomas Plenert · Lars Barthel · Johann Feindt
Musik
Lutz Wernicke
Schnitt
Reinhardt Beetz
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
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Diskussion
Der Kalte Krieg geistert meist als historisches Abstraktum durch die Geschichtsbücher, bildet Teilüberschriften und Fußnoten, wird mit stereotypen Daten und Bildern assoziiert, bestenfalls mit ein paar Dutzend prominenter Namen auf Opfer- wie Täterseite. Dass diese reichlich 40 Jahre sich zuallererst und sehr konkret in zahllosen Einzelbiografien eingeschrieben haben, scheint im Unschärfenbereich der Betrachtung zu verschwimmen. Erinnerungsarbeit ist wieder so ein Schlagwort, allerdings eines, das mit Leben erfüllt werden kann. Wer sich ihr aussetzt, schwimmt ganz sicher nicht im Fahrwasser des Zeitgeistes, läuft Gefahr, sich dem Gespött der Event-Kultur auszusetzen. Umso wertvoller und zeitloser können jedoch Ergebnisse dieser Arbeit sein; vorausgesetzt, sie erfolgt mit solch testamentarischer Genauigkeit wie sie Hannes Schönemann in seiner Dokumentation „Julias Wahn“ an den Tag gelegt hat. Ohne Zweifel wird dieser Film im Lauf der Jahre an Relevanz gewinnen und irgendwann auch die Anerkennung erfahren, die ihm zusteht.

1969, „Sommer der Liebe“ – auch für Hannes und die aus Dänemark angereiste dänische Jungkommunistin Julia Szabad. Beide lernen sich an der Ostseeküste kennen, wo sie als offizieller Gast der „Ostseewochen“ weilt und er gerade eine Regieassistenz bei der DEFA absolviert. Rauschhaft erlebte Tage, dann der Abschied auf unbestimmte Zeit. Briefe müssen Begegnungen ersetzen, Entwicklungen verlaufen getrennt, unter völlig unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen. Während Julia ihren vorbestimmten Weg als Kader der orthodoxen Linken zu nehmen scheint, wird für Hannes das Zusammentreffen mit ihr zum einschneidenden Erlebnis. Das halbe, das östliche Deutschland wird eng, der schüttere Charakter der Staatsdoktrin transparent. Aus Sicht der Sicherheitsorgane entwickelt sich Schönemann zum Risikofaktor: Gruppenbildung, Abweichung vom „sozialistischen Realismus“, unerlaubte Kontaktaufnahme zum westlichen Ausland lauten die üblichen Katalogpunkte – von deren Existenz der Delinquent damals freilich noch nichts ahnte. 1982 nimmt Julia den Kontakt mit Hannes wieder auf, initiiert ihren Besuch in Ost-Berlin. Hannes, inzwischen verheiratet und mehrfacher Vater, stimmt mit Duldung seiner Frau Sybille zu. Und die Liebe flammt erneut auf, erneute Trennung folgt. Längst der realsozialistischen Wirklichkeit abhanden gekommen, stellen Hannes und Sybille 1984 ihren Ausreiseantrag. An ihnen wird unerwartet ein Exempel statuiert: Das Ehepaar wird verhaftet und ein Jahr später Richtung Bundesrepublik abgeschoben bzw. an sie verkauft. Sybille und Hannes Schönemann verkörpern den einzigen Fall unter „DDR-Filmschaffenden“, bei dem mit solcher Härte vorgegangen wurde. (Von Thomas Brasch einmal abgesehen, der 1968 als Student der Filmhochschule Babelsberg quasi aus dem Hörsaal heraus verhaftet worden war.) Die Geschichte geht weiter. Die Schönemanns fassen im Westen Fuß. Als die DDR kollabiert, ist Hannes gerade bei Dreharbeiten in New York. Alles scheint offen, die Karten werden neu gemischt. Julia Szabad aber nimmt sich 1990 das Leben.

„Julias Wahn“ fungiert als komplexes Zeitgemälde und höchst persönliches Exerzitium zugleich. Aktuelle Interviews verbinden sich mit noch nie gesehenen Aufnahmen aus den 70er- und 80er-Jahren der DDR, die Lars Barthel und Thomas Plenert teilweise auf illegal organisiertem Filmmaterial aufgenommen haben. (Geradezu atemberaubend die Fahrten durchs Ost-Berliner Grenzgebiet, die immer wieder an der Mauer enden.) Schönemann begibt sich mitten hinein in die eigene Vergangenheit, fördert Ungeheuerlichkeiten zu Tage und geht, spürbar schaudernd zwar, aber unerbittlich sich selbst gegenüber, immer weiter. Abseits von einer auf oberflächliche Aha-Effekte zielenden investigativen Recherche führt er das Politische mit dem Privaten zusammen, emanzipiert Letzteres gerade durch diese Konsequenz. Das größte Schockmoment besteht wohl in der Erkenntnis, dass es neben dem täglichen Erleben weitere Ebenen der eigenen Existenz gegeben hat, von denen man nichts erahnte. Fremdbestimmung blitzt auf. Julia Szabad, die sich in Telefonaten mit Schönemann nach dessen Übersiedelung in den Westen als fanatische Antikommunistin zu erkennen gab, sorgte u.a. dafür, dass der frisch aus DDR-Haft Entlassene umgehend vom BND unter Beobachtung gestellt wurde. Er sei als Top-Agent zur Unterwanderung der RAF abgestellt worden, um diese im Sinne von Markus Wolf steuern zu können, lautete die abenteuerliche These. Zahlreiche Momente des sich auftuenden Geflechts aus Stasi, PET (dänischer Geheimdienst), CIA, KGB, Mossad usw., auch die Vermischung von Wahn und Realität im Persönlichkeitsbild Julias bleiben letztlich ungeklärt.

Schönemanns Film muss als Gegenentwurf zum menschenverachtenden Taktieren sich verselbständigender politischer Apparate verstanden werden. Er entreißt dem Kalten Krieg das Gesicht eines durch ihn zerstörten Menschen. Er stemmt sich gegen die Banalität, gegen den Pragmatismus. Nicht zuletzt deshalb erweist sich „Julias Wahn“ als Liebesfilm im besten Sinne des Wortes: Er stellt den Versuch dar, das im Nächsten lauernde Unbegreifbare zu begreifen. Und damit sich selbst. Dieser Film ist ebenso urteilsfrei wie fassungslos, doch voller Zärtlichkeit.
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