Die wiedergefundene Zeit

Literaturverfilmung | Frankreich/Italien/Portugal 1998 | 162 Minuten

Regie: Raúl Ruiz

Vom Krankenlager des Dichters Marcel Proust aus führt der Film zu drei Tableaus, mit denen die Atmosphäre der gehobenen Pariser Gesellschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts umrissen wird. Dabei kombiniert er den Roman "Die wiedergefundene Zeit" mit Motiven aus anderen Teilen des Proustschen Zyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" und entwirft ein komplexes, zwischen Faszination und Distanz oszillierendes Bild von Bewegung und Stillstand, Vergänglichkeit und Ewigkeit. Ein vielschichtiger Film, geprägt von erzählerischen Brüchen und Ellipsen, dem experimentellen Verschränken der Zeitebenen, der Affinität zum Surrealistischen und dem Spiel mit Träumen und Visionen. Trotz dramaturgischer Schwächen ein überzeugender Versuch, Proust ins Filmische zu übersetzen. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LE TEMPS RETROUVE
Produktionsland
Frankreich/Italien/Portugal
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Blue Cinematographica/Gémini Films/France 2 Cinéma/Les Films du Lendemain
Regie
Raúl Ruiz
Buch
Gilles Taurand · Raúl Ruiz
Kamera
Ricardo Aronovich
Musik
Jorge Arriagada
Schnitt
Denise de Casabianca
Darsteller
Catherine Deneuve (Odette) · Emmanuelle Béart (Gilberte) · John Malkovich (Baron de Charlus) · Pascal Greggory (Robert de Saint-Loup) · Vincent Perez (Charlie Morel)
Länge
162 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Literaturverfilmung
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Heimkino

Verleih DVD
Koch
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Diskussion
Im November 1976, acht Jahre vor seinem Tod, sprach Joseph Losey über seinen Traum, Marcel Proust zu verfilmen. Dessen Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ enthalte all das, „von dem Hollywood annimmt, es sei Unterhaltung: Romantik, Leidenschaft, Hetero- und Homosexualität, alle Arten der Perversität, Gewalt und Grausamkeit, Schönheit, Realität, Aristokratie, Snobismus“. Damals lag Harold Pinters Drehbuch bereits seit Jahren vor, Losey veranschlagte die rein technischen Kosten der Adaption auf zwölf Mio. Dollar, die Drehzeit auf 20 Wochen und die endgültige Filmlänge auf etwa vier Stunden. Wie ein Besessener brannte er darauf, den Film zu machen, „was ich allem anderen vorziehen würde“. Doch kein Produzent ging das Risiko ein. Auch Luchino Visconti plante einen Proust-Film; er starb, bevor er ihn drehen konnte. So blieb Volker Schlöndorff der Einzige, der eine Adaption zuwege brachte: „Eine Liebe von Swann“ (fd 24 477) geriet atmosphärisch genau, vermochte aber trotz schöner Bilder nicht zu verhehlen, dass er bestenfalls zum Torso eines großen Entwurfs geraten war. Nun hat sich der chilenische Regisseur Raúl Ruiz, der nach dem Sturz Allendes 1973 in Paris Zuflucht suchte, des monumentalen Werks angenommen ­ und es scheint, als ob die Mehrzahl seiner bisherigen rund 60 Filme eine komplexe Vorarbeit zu diesem Kraftakt gewesen ist. Die von Ruiz seit jeher favorisierten erzählerischen Brüche und Ellipsen, die experimentelle Verschränkung der Zeitebenen, die Affinität zum Surrealistischen, das Spiel mit Träumen und Visionen mussten eines Tages zu Proust hinführen. In der Tat bestätigt das Ergebnis, eine insgesamt brillante Absage ans kommerzielle Erzählkino, nicht nur schlechthin die Nähe, sondern die geistige Kongruenz von Filmemacher und Dichter: So kongenial wie in „Die wiedergefundene Zeit“ ist Proust noch nie auf die Leinwand gebracht worden. Das schließt nicht aus, dass der Film auch Schwächen hat. Die Entscheidung beispielsweise, die zentrale, in nahezu allen Einstellungen auftretende Figur ­ Marcel Proust selbst ­ nicht als aktiv Handelnden, sondern fast ausschließlich als passiv Beobachtenden durch den Film zu führen („Wenn ich meinte, sie zu betrachten, durchleuchtete ich sie“), bedingt eine gewisse dramaturgische Gleichförmigkeit. Nach der langen Introduktion, die zur Orientierung im flächigen Gesamtgefüge mit seinen Dutzenden Hauptpersonen dient, lässt der Spannungsbogen merklich nach und zieht erst im letzten Drittel wieder an. Wer Prousts Roman nicht kennt, droht an dieser Flächigkeit und der Vielzahl der Gesichter zu scheitern. Andererseits gelingt es Ruiz sehr früh zu vermitteln, dass man nicht unbedingt jedes Detail des Geschehens rational erfassen, jede Figur einordnen muss. Wichtig ist vielmehr das Gefühl für eine Zeit und für eine Gesellschaftsschicht, deren Erscheinungsbild und das, was sich dahinter möglicherweise verbirgt. „Die wiedergefundene Zeit“ ist in eine Rahmenhandlung gebettet: In seinen letzten Lebensmonaten diktiert der Dichter vom Krankenlager aus seinen Roman und betrachtet durch eine Lupe noch einmal die Bilder seines Lebens. Jedes Foto provoziert eine Vielzahl von Erinnerungen, und jedes ist mit einer Zeitreise in die Vergangenheit ­ und zugleich in den Text des Romans ­ verbunden. Für diese Odyssee nutzt Ruiz’ Kameramann Ricardo Aronovich das Prinzip der totalen Bewegung: Die Kamera gleitet durch Räume, umkreist die Figuren, fährt auf Türen zu, die sich plötzlich öffnen und eine Welt hinter der Welt entdecken lassen. Die Fahrten der Kamera ergänzend und unterstreichend, ermöglichen die Studiobauten von Bruno Beauge auch noch vertikale Bewegungen von Möbeln oder Figurengruppen. Während eines Klavierkonzerts verschieben sich plötzlich ganze Stuhlreihen. Die Bilder assoziieren ein Schweben in Raum und Zeit; nichts ist so sicher, wie es scheint, und nichts ist beständig. Ruiz konterkariert diese Unsicherheit und Veränderlichkeit mit dem Bestreben der Figuren, in sich zu ruhen, ja ihre Jugend, das Glück, die Schönheit gleichsam zu konservieren. Zeit und Mensch werden als gegnerisches Paar vorgeführt: als Ringkämpfer, bei denen der eine Partner nicht wahrhaben will, dass der andere immer ­ immer! ­ den Sieg davontragen wird. Vom Sterbebett aus führt „Die wiedergefundene Zeit“ zu drei prachtvollen Tableaus. Einem Monumentalgemälde gleich lebt zunächst die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wieder auf. Ruiz zeigt den Besuch des Dichters bei seiner Jugendliebe Gilberte, die mit ihrem bisexuellen Mann Robert de Saint-Loup eine unglückliche Ehe führt ­ für den Ich-Erzähler eine Gelegenheit, über die Vergänglichkeit der Liebe, das mit jeder beendeten Beziehung verbundene Absterben eines Stückes eigenen Ichs zu reflektieren. Diesem melancholischen Entree folgt das bisweilen satirische zweite Tableau, das 1916 spielt und eine Gesellschaft skizziert, die trotz des Krieges von ihren Vergnügungen nicht lassen will. Eine starke Szene zeigt ein Restaurant, in dem eine Wochenschau mit Kriegsgräueln über die Leinwand flimmert, während die wohlhabenden Damen und Herren dinieren und dabei ihre Beziehungsprobleme pflegen. Stark ist auch die Begegnung zwischen dem Dichter und Robert de Saint-Loup, der nun, als Offizier an der Front, vor allem die Nähe zu jungen Männern aus „unteren Schichten“ genießt. Während seiner Berichte fährt die Kamera nahe an seinen Mund, in den er, fast ohne zu Kauen, das Essen stopft. „Ich wollte zeigen“, so Ruiz, „dass er dabei ist, die Leichen herunterzuschlucken, von denen er erzählt. Das Fleisch ist blutig, aber buchstäblich im eigentlichen Wortsinn.“ Später erkundet der Dichter ein Bordell, in dem sich junge Soldaten für reiche Herren prostituieren ­ eine von vielen Sequenzen dieses Tableaus, mit denen Ruiz das bizarre Porträt einer frühen „Spaßgesellschaft“ zeichnet, die allen politischen Erschütterungen aus dem Weg zu gehen versucht und den privaten Genuss bis zum Exzess kultiviert. Bilder, in denen der Film durchaus gegenwärtig wird. Das dritte Tableau führt ans Ende des 20er-Jahre. Außer der Figur des Dichters sind alle anderen gealtert; während einer Party spaziert man aneinander vorbei, erkennt sich kaum; Ruiz leistet sich sogar das Vergnügen eines Running Gags, indem er einen alten Mann immer wieder auf den Dichter zusteuern lässt, mit stets neuer Begrüßung, die ins befremdliche Schweigen mündet. Geräusche, Gegenstände und Gespräche lassen den Dichter aus diesem Universum der Larven und Lemuren (für das Ruiz großartige Gesichter fand) in seine Kindheit und Jugend entschweben. Noch einmal sind alle jung, ein letztes Mal, und Ruiz nimmt es, wie im gesamten Film, mit einer Mischung aus Faszination und Distanziertheit wahr. Im Finale schließlich verbeugt sich der Regisseur ganz tief vor seinem Vorbild Visconti. Auf einer Strandpromenade folgt, wie der Komponist Gustav von Aschenbach in „Tod in Venedig“ (fd 17 358), nun auch der Dichter Proust einem Jungen zum Wasser. Das Kind aber ist Marcel selbst. Und während Proust im Bild als älterer Mann seine eigene Kindheit einzuholen versucht, skizziert der „neutrale“ Erzähler Proust ­ der Dritte im Bunde der „gesplitteten“ Figur ­ aus dem Off die Geschichte eines Künstlers, der von einem Todesengel abgeholt werden soll und die Zeit bis zum endgültigen Abschied mit dem Betrachten seines Meisterwerks verbringt, einer Figur namens „Göttliche Nemesis“. Aber die Zeit dafür erweist sich als viel zu kurz. Den Engel wundert es nicht: „In diesem Werk“, so sein Resümee, „ist dein ganzes Leben enthalten und das Leben aller Menschen. Um es zu betrachten, bräuchtest Du eine Ewigkeit“.
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