- | Israel/Frankreich 1999 | 116 Minuten

Regie: Amos Gitai

Die Ehe eines kinderlosen jüdischen Paares geht am Rigorismus des orthodoxen Umfeldes zugrunde, das auch die Ursache dafür ist, dass die Schwester der Ehefrau einen ungeliebten, bei den Gemeindemitgliedern aber angesehenen Mann heiraten muss. Eine nahezu archetypische Liebesgeschichte in Form eines großen Klageliedes, dessen subversive Sprengkraft gerade in der formalen Zurückhaltung liegt, wobei der Film auf folkloristische und ethnografische Klischees verzichtet. Durch die Leidensgeschichten der Protagonisten werden die Toleranzgrenzen des Zuschauers ausgelotet, der sich zu der Frage herausgefordert sieht, wie viel religiöser Fanatismus zu ertragen ist. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
KADOSH
Produktionsland
Israel/Frankreich
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Agav Hafakot/M.P./Studio Canal +
Regie
Amos Gitai
Buch
Amos Gitai · Éliette Abécassis
Kamera
Renato Berta
Musik
Philippe Eidel · Louis Sclavis
Schnitt
Monica Coleman · Kobi Netanel
Darsteller
Yoram Hattab (Meir) · Meital Barda (Malka) · Uri Ran-Klausner (Yossef) · Yussuf Abu Warda (Rav Shimon) · Lea Koenig (Elisheva)
Länge
116 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Eine Gemeinschaft droht an einem seelenlos gesetzestreuen Puritanismus zu zerbrechen – das ist „Babettes Fest“ (fd 27 717). Ein Priester scheitert kläglich beim Versuch, das Evangelium radikal buchstabengetreu umzusetzen – das ist „Nazarin“ (fd 13 406). Ein Ehe erstickt am formalistischen Kollektivismus einer orthodoxen jüdischen Gemeinde – das ist „Kadosh“. Die Erkenntnis, dass „Kadosh“ eine universale Geschichte erzählt, ist deshalb notwendig, weil sie die einzige Entgegnung auf den Vorwurf ist, dieser Film verunglimpfe das orthodoxe Judentum. Kenner des Judentums und erst recht gläubige Juden werden in „Kadosh“ nämlich sicher manches entdecken, was überzeichnet, verfälscht und polemisch verzerrt ist, und den Film ablehnen. Was aber sollen Kinozuschauer, die nicht über dieses Vorwissen verfügen, von Gitais Film halten? Sie werden sich auf eine Geschichte einlassen müssen, die in jeder Religionsgemeinschaft passieren könnte und wohl auch passiert, eine Geschichte über religiösen Fanatismus und Rigorismus: Rivka und ihr Mann Meir sind seit zehn Jahren verheiratet, ein Paar, das sich nach wie vor innig liebt und doch zutiefst unglücklich ist, weil der Wunsch nach Kindern nie erfüllt wurde. Damit fehlt ihrer Ehe in den Augen der anderen Gemeindemitglieder der Segen Gottes und es fehlt der zählbare Beitrag zum Wachsen der Gemeinde. Meir wird zunächst andeutungsweise, dann immer direkter aufgefordert, sich von Rivka zu trennen und sich eine jüngere, fruchtbare Frau zu nehmen. Das stürzt ihn in einen tiefen Gewissenskonflikt, denn einerseits liebt er Rivka nach wie vor über alles und andererseits fühlt er sich der Gemeinde verpflichtet. Als Folge wird er impotent in zweifachem Sinne, denn erstens gelingt es ihm nicht mehr, sich auf das Studium des Talmud zu konzentrieren, und zweitens kann er nicht mehr mit seiner Frau schlafen, weil er sich dazu nicht berechtigt fühlt, denn nur die Möglichkeit einer Schwangerschaft rechtfertigt Sexualität. „Kadosh“ ist auch die Geschichte von Malka, der Schwester Rivkas. Sie liebt den Musiker Yaakov, der aus der Gemeinde ausgestoßen wurde, weil er im Libanon Militärdienst geleistet hat. Sie soll aber nach dem Willen des Rabbiners Yossef heiraten, ein treues, ja fanatisches Mitglied der Gemeinde. Unter anderem von Rivka gedrängt, verleugnet Malka sich schließlich selbst und heiratet tatsächlich den ungeliebten Yossef. Im Mittelpunkt von „Kadosh“ stehen zwei Frauen, die beide unter den Forderungen des Kollektivs leiden, für das sie keine Subjekte sondern lediglich Werkzeuge des Glaubens sind. Rivka findet für ihre scheinbare Unfruchtbarkeit nicht Trost und Verständnis, sondern wird verstoßen und verachtet, genau wie Malka, die mit dem Dissidenten Yaakov eine unbotmäßige Liebesbeziehung eingeht. „Ich ersticke“ klagt Malka und umschreibt damit die ausweglose Situation, in der am Schluss nur Flucht oder Tod bleibt. „Kadosh“ ist, man kann es nicht genug betonen, eine geradezu archetypische Liebesgeschichte, kein ethnografischer Dokumentarfilm. Dennoch spielen religiöse Rituale eine zentrale Rolle und werden akribisch genau gezeigt, ja der ganze Film hat mit seinem langsamen Rhythmus, seiner überaus disziplinierten Inszenierung und seinen langen Einstellungen etwas Rituelles an sich – er ist ein großes Klagelied. Dass „Kadosh“ dennoch nicht manieriert geraten ist, verdankt er zunächst den großartigen Schauspielern, allen voran den beiden präsenten Hauptdarstellerinnen. Überzeugend ist Gitais Film zudem, weil er sich nie dem Pittoresken hingibt. Nur zu häufig wird im Kino gerade das orthodoxe Judentum zwar scheinbar kritisch und distanziert beobachtet, aber dann doch so bildschön dargestellt, dass durch die Hintertür die Verklärung lugt. Filme wie „Yentl“ (fd 24 513), „Strangers“ (fd 31 540) und „Kalmans Geheimnis“ (fd 33 808) sind letztlich nur vordergründig kritisch, in Wirklichkeit fördern sie ein undifferenziertes Schwärmertum für das exotisch fremde und gerade deshalb so aufregende orthodoxe Judentum. Aus der formalen Zurückhaltung erwächst letztlich sogar die eigentlich subversive Sprengkraft des Films, indem hier in unspektakulären, ja konventionellen Bildern und mit unaufgeregtem Erzählfluss eine ungeheuerliche Leidensgeschichte erzählt wird, die Geschichte einer Liebe, die am religiösen Fanatismus erstickt, und die selbst beim Zuschauer Atemnot verursacht. Regisseur Amos Gitaï macht zwar auch deutlich, dass Rituale Geborgenheit vermitteln können, beispielsweise im Morgengebet Meirs oder im Reinigungsbad der Frauen. Besonders berührend sind die Liebesszenen zwischen Rivka und Meir ,weil gerade in ihrer scheinbar zögerlichen Ritualität eine tief empfundene Zärtlichkeit zum Vorschein kommt. Gleichzeitig wird aber auch sichtbar, wie Rituale zu Fesseln werden können, etwa wenn Rivkas Mutter vom Rabbiner gezwungen wird, die „Nachfolgerin“ ihrer Tochter zu waschen. Oder wenn sich Malka vor ihrer Heirat mit Yossef die Haare schneidet und sich während dieser peinvollen Selbstverstümmelung das Spiegelbild allmählich selbständig macht. Es ist die sowohl filmisch wie schauspielerisch eindrücklichste Szene des ganzen Films, in der mit einfachsten, aber präzise eingesetzten formalen Mitteln eine fundamentale Hilflosigkeit zum Ausdruck kommt, unter der im Grunde nicht nur die Frauen leiden sondern auch die Männer. Während sich aber die Männer in die akademische Diskussion flüchten, ob bei der Teezubereitung am Sabbat zuerst der Beutel oder das Wasser ins Glas gehöre, stellen sich die Frauen den wirklichen Fragen: Weshalb dürfen sie nicht die Tora studieren, und weshalb wird Unfruchtbarkeit als die ausschließliche Schuld der Frauen betrachtet. Aber auch Rivka und Malka unterscheiden sich wesentlich, da es nur einer von beiden gelingt, diese Fragen auch zu artikulieren – und das erweist sich schließlich als entscheidend. In „Kadosh“ wird der Zuschauer an die Grenzen seiner Toleranzfähigkeit geführt. Wie viel an religiösem Fanatismus und an moralischem Rigorismus kann man ertragen – sei es nun im Christentum, im Islam, im Judentum oder in irgendeinem anderen Glauben.
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