De grote Vakantie

Dokumentarfilm | Niederlande 1999 | 145 Minuten

Regie: Johan van der Keuken

Im Oktober 1998 erfährt der niederländische Dokumentarfilmer Johan van der Keuken, dass er an Prostatakrebs erkrankt ist und nur noch wenige Monate zu leben hat. Zusammen mit seiner Frau begibt er sich auf Weltreise, um angesichts des Todes noch einmal seine Weltsicht zu formulieren. Seine Reise nach Bhutan, Burkina Faso, Brasilien und in die USA verdichtet sich zu einer Ode an die Vielfalt des Lebens, wobei die Beiläufigkeit, mit der er seine Eindrücke registriert, den Blick auf die Magie der Dinge freigibt und sich das Dokument zu einer Meditation über Leben und Tod verdichtet. (Preis der Ökumenischen Jury, Berlin 2000, O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DE GROTE VAKANTIE
Produktionsland
Niederlande
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Peter van Huystee Film & TV
Regie
Johan van der Keuken
Buch
Johan van der Keuken
Kamera
Johan van der Keuken
Schnitt
Menno Boerema
Länge
145 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Im Jahr 1995 wurde bei Johann van der Keuken Krebs diagnostiziert. Als er im Oktober 1998 von seinem Arzt in Utrecht erfährt, dass sich die Prostata-Krebszellen in seinem Körper ausgebreitet haben und er nur noch wenige Jahre, vielleicht sogar nur einige Monate zu leben hat, reagiert der unermüdlich Reisende in Sachen Film, der bis dato über 50 Dokumentarfilme gedreht hatte, wie immer, wenn er mit etwas Neuem konfrontiert wird: Er will seine nunmehr kostbare Zeit damit verbringen, zu sehen und zu hören, und fliegt um die halbe Welt, um sich von ihr zu verabschieden, will „eine Chronik seiner ganz persönlichen Weltsicht liefern“. So lädt dieser jüngste Essayfilm van der Keukens zu einer nachdenklichen Erkundungsreise ein, die der holländische Altmeister des Dokumentarfilms dazu nutzt, bei einem notgedrungenen Urlaub vom Leben mit der Kamera über seine Krebserkrankung und über das Filmemachen selbst zu reflektieren.

„Wenn ich keine Bilder machen kann, bin ich tot“, bekennt der obsessive Dokumentarist mit sanfter Stimme und bricht mit seiner Lebensgefährtin und Tonfrau Nosh van der Lely wie so oft in seinen Filmen auf zur Exkursion, diesmal nach Bhutan, Burkina Faso, Brasilien und in die USA, um Bilder und Geschichten zu sammeln, hinter denen ein größerer Zusammenhang zu entdecken ist. Mit Zwischenstopps in Amsterdam, wo die beiden leben, in Utrecht und Rotterdam, wo van der Keuken erneut seinen Arzt konsultiert und das Filmfestival besucht, macht sich der Filmemacher mit einer 16mm-Kamera, einer kleinen digitalen Videokamera und einem Tonaufnahmegerät daran, Fragmente der komplexen Wirklichkeit zu erfassen, um unmittelbar Lebensausschnitte auszuloten, die letztlich wie dokumentarische Stichproben Rückschlüsse auf das große Ganze zulassen, aber auch eine reflexive Distanz zur Welt wahren. Seine Sinnsuche wirkt eher gelassen als gehetzt von der Angst, die ihn hellhörig für die kleinen Dinge des Lebens macht: unscheinbare Dinge des Alltags wie seine privaten Gegenstände, Fotoapparate, ein Bild von Paul Klee, das Geräusch klirrender Porzellantassen, die er wie Still-Leben arrangiert, was der Imaginationskraft Freiräume schafft, aber auch für Landschaften und Menschen, die er auf vier Kontinenten porträtiert. Der Sinn, so deutet van der Keuken in seinem Kommentar aus dem Off an, könnte in der Bewegung und ihrer Wahrnehmung liegen, die in Bildern festgehalten, in einen Film transformiert, an andere weitergegeben werden können, worin für ihn genug Magie liege, um das Universum zu füllen.

Dabei spielt die kleine Videokamera eine besondere Rolle, da sie den geschwächten Operateur von der Last der herkömmlichen Kamera oft befreit und ihm die Möglichkeit bietet, fast unzertrennlich mit dem beobachtenden Auge des Objektivs zu verschmelzen. Selbst ist er im Bild nur selten zu sehen, aber er nimmt auch verfängliche Situationen auf, wie bei der tibetischen Schamanin, die ihn noch einmal nach Katmandu eingeladen hat, weil sie glaubte, ihn heilen zu können, und an seinem Unterleib saugt, während er vom eigenen Körper aus filmt. Neugier und Offenheit für das Andere, frei von allen Vorbehalten, aber auch Aufruhr und Festhaltenwollen am Leben, offenbaren sich darin genauso wie in den Bildern, die van der Keuken bei seinen Begegnungen mit buddhistischen Lamas, Ärzten, anderen Cineasten beim Filmfestival in San Francisco macht, wo er mit einem Preis für sein Lebenswerk geehrt wird, während er einen Berg in Bhutan besteigt oder über Rio de Janeiro mit einem Drachenflieger schwebt. Beide Filmsprachen, die der professionellen 16mm-Kamera und die der DV-Handkamera, sind ins 35mm-Format übertragen und miteinander verwoben worden, sodass eine Nähe zu Menschen und Dingen, eine verblüffende Dichte von Bildern entsteht, und im Kontrast zum pulsierenden Leben mancher Aufnahmen der Eindruck einer kontemplativen Ruhe aufkommt. Erneut geht es um den magischen Moment und um die Magie der Bilder, die van der Keuken scheinbar beiläufig in den entlegensten Winkeln der Welt einfängt und mit Einfühlungsvermögen, aber auch ironischer Anteilnahme kommentiert: Bilder aus Burkina Faso und Mali, dem „Land der unbestechlichen Männer“, das an die südliche Sahara grenzt, die in ihrem eigentümlichen Widerspruch von Schönheit und Pein des farbenfrohen Alltags zeigen, „wie mühsam der Kampf ums Leben auf der Erde ist und mit wie viel Freude es gelebt wird“; Bilder vom Niger, dem Menschenfluss, den der Filmemacher schon immer sehen wollte; Momentaufnahmen von 105 Kindern aus einem Dorf in der Sahelzone, von denen jedes fünf Sekunden lang im Bild zu sehen ist, seinen Namen sagt und manchmal unbefangen oder trotzig lächelt. Die Erforschung sozialer Realien vermischt sich mit Aufnahmen, die beinahe genauso belanglos sind wie Postkarten, tiefgründige, weise Reflexion über das Leben, die Zeit und das Kino mit Prosaischem und Allzumenschlichem, sodass in alledem ein schöner, da wirklichkeitsnaher Trost liegt.

Genau in diesem Moment, als seine Beschwerden spürbar zunehmen, erfährt der 61-Jährige von einem Arzt in New York von einem neuen Medikament, das den Wachstum der Krebszellen aufhalten, sogar umdrehen kann. Es gibt seinem Leben und dem Film eine Wendung: Mehr Zeit ist ihm geschenkt, er denkt wieder über neue Filmprojekte nach. Heimgekehrt in Amsterdam, kann er an einem schönen, lauen Sommertag im Kreis seiner großen Familie feiern. Eine wunderbare Sequenz mit der vom Sonnenlicht überfluteten, flimmernden Mündung der Amstel bildet den krönenden Abschluss - der Fluss als „Grenze zwischen Leben und Tod“, aber auch als „Inbegriff von Bewegung und Kontinuität“. Sein filmisches Tagebuch im Zeichen des Todes wandelt sich unversehens in eine Ode ans Leben in seiner weltumspannenden Mannigfaltigkeit. „Trotz aller Widrigkeiten weiterzuleben, mit Hilfe von wunderbaren Geschichten, die sich wie von selbst offenbaren und ein Trost im Angesichts des Nichts sind“, heißt es in van der Keukens versöhnlichem Kommentar: Darin liegt gewiss „eine kleine Magie“.
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