- | Frankreich 1999 | 95 Minuten

Regie: Jean-Pierre Sinapi

Ein 50-Jähriger, an Muskelschwund leidender Heiminsasse, der Personal und Mitbewohner mit seinen Launen nervt, findet zu einem ausgeglichenen Leben, als seine Pflegerin bei der Heimleitung seinen Wunsch nach regelmäßigem Kontakt zu einer Prostituierten durchsetzt. Die durch den Einsatz digitaler Videokameras geschickt die Balance zwischen Dokumentarspiel und Komödie haltende Inszenierung versagt sich jeden mitleidigen Blick auf die sexuellen Nöte ihrer Protagonisten und findet dank überzeugender Akteure zur poetisch überhöhten Darstellung eines oft verleugneten Tabu-Themas. (Titel auch: "Straße der Freuden") - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
NATIONALE 7
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Telecip/La Sept/arte/Centre Nationale de la Cinématographie/Gimages 3/Canal +
Regie
Jean-Pierre Sinapi
Buch
Jean-Pierre Sinapi · Anne-Marie Catois
Kamera
Jean-Paul Meurisse
Schnitt
Catherine Schwartz
Darsteller
Nadia Kaci (Julie) · Olivier Gourmet (René) · Lionel Abelanski (Roland) · Chantal Neuwirth (Sandrine) · Saïd Taghmaoui (Rabah)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Beeindruckt von den „Dogma“-Filmen, bot der französische Produzent und Regisseur Jacques Fansten dem Fernsehsender Arte ein Projekt an, in dem sieben Regisseur und Regisseurinnen einen Spielfilm drehen sollten, ohne inhaltliche Vorgaben, aber mit jeweils nur 1,3 Mio. Mark und Videokameras ausgestattet. Ziel des Projekts war es, durch die neue Technik die filmische Ästhetik weiterzuentwickeln. Vier der Filme sind bereits abgedreht, Claude Millers beeindruckende Krankenhaus-Studie „Das Zimmer der Zauberinnen“ schaffte den Sprung in den Wettbewerb der „Berlinale“ 2000, während Jacques Fanstens „Ausgestiegen“, Oliver Prys „Mit geschlossenen Augen“ und Jean-Pierre Sinapis „Straße der Freuden“ bei Arte ausgestrahlt wurden. Nun wagt man mit Sinapis Film einen Kinoeinsatz, der hoffentlich so erfolgreich ist, dass man auch den anderen Produktionen eine Chance im Kino einräumt. Auf der Grundlage einer wahren Geschichte entwickelte Sinapi sein Buch über große und kleine Probleme in einem Heim für körperlich Behinderte, nahe der Route Nationale 7 bei Toulon. Im Mittelpunkt steht der an Muskelschwund leidende 50-jährige René, der mit seinen Launen Personal und Mitbewohner nervt. Nur die neue junge Pflegerin Julie lässt sich nicht von ihm provozieren. Langsam entwickelt sich zwischen den beiden ein Vertrauensverhältnis, das René schließlich zu dem Eingeständnis verleitet, dass seine Übellaunigkeit vor allem auf seine sexuelle Frustration zurückzuführen ist. Er möchte sich nicht weiter beim Anschauen von Pornofilmen befriedigen, sondern noch einmal mit einer Frau schlafen, solange seine Krankheit es noch zulässt. Julie bringt seinen Wunsch in der Dienstbesprechung vor, findet aber nur beim Psychologen Jacques Unterstützung. Diese ist allerdings nicht ganz uneigennützig, hat er doch ein Auge auf die Pflegerin geworfen. René will die Entscheidung nicht hinnehmen und tritt in den Hungerstreik, bis der Heimleiter nachgibt. Julie macht sich nun entlang der Nationalstraße 7, an der Prostituierte in Wohnwagen ihre Dienst anbieten, auf der Suche nach einer Frau, die bereit ist, den außergewöhnlichen „Liebesdienst“ zu leisten. In Florèle findet sie schließlich diese Dame, und fortan unternimmt sie mit René regelmäßig Ausflüge zur Route Nationale 7. Das Geheimnis von Renés plötzlicher Ausgeglichenheit lässt sich nicht lange geheim halten, und so schließen sich seinen Besuchen bei den Dirnen immer mehr Heiminsassen an, die von Julie, ihrer Kollegin Sandrine und dem Hausmeister Roland, der ebenfalls in Julie verliebt ist, begleitet werden. Kaum hat man dieses Problem einigermaßen im Griff, steht der nächste Heim-Aufstand bevor: Der homosexuelle Mohammedaner Rabah möchte zum christlichen Glauben übertreten, aber nur unter der Bedingung, dass Florèle seine Taufpatin wird. Diesmal versagt Jacques Julie seine Unterstützung gegenüber der Heimleitung. Als Rabahs Kampf schon fast verloren scheint, organisiert René mit Hilfe von Roland eine Solidaritätskundgebung aller Heimbewohner an der Route National. Um einen Skandal zu vermeiden, gibt der Heimleiter nach. So endet die Taufe in einer ungewöhnlichen Party, die nicht nur dem Heimbewohner und dem Pflegepersonal ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl beschert, sondern auch Julie die Erkenntnis, dass der schüchterne Roland viel besser zu ihr passt als der von sich eingenommene Jacques. Wenn es nicht nachzulesen wäre, würde man es kaum glauben: Bis auf einige Statisten sind alle Behinderten-Rollen mit Schauspielern besetzt. Besonders Olivier Gourmet liefert als René eine darstellerische „tour de force“, die den Zuschauer anfangs gegen ihn einnimmt, dann aber hinter seiner Renitenz und seinem Zynismus jene Verletzlichkeit durchscheinen lässt, die ihn ans Herz wachsen lässt. Er bringt von jeder Mitleidsschiene ab, sodass der Zuschauer gar nicht darüber nachdenkt, ob nicht auch Behinderte ein Recht auf Sexualität haben, konfrontiert hautnah mit der Problematik hautnah und zwingt zur Stellungnahme - besonders auch durch das „Identifikationsangebot“ durch Julie. Nadia Kaci ist mit ihrer Interpretation so nahe an der Berufswirklichkeit, wie sie zugleich überhöht, denn auch ihr privates (Film-)Liebesleben ist ein ständiger Kampf zwischen Wunschdenken und Machbarem. Nadine Marcovicis Florèle entspricht äußerlich ganz dem Klischeebild einer Prostituierten - und doch nimmt sie ihm mit ihrer anrührenden Interpretation jede Vulgarität. Lionel Abelanski stattet Roland mit selten gewordener Poesie des Alltäglichen aus, und wenn sich Chantal Neuwirts Sandrine von ihrer Lebenslüge einer glücklich verheirateten Ehefrau verabschiedet und neuen Lebensmut in der Beziehung mit einem Behinderten findet, dann nimmt sie durch ihr erfrischendes Spiel den Szenen jede Peinlichkeit. Sinapis zwischen Dokumentarspiel und Komödie balancierender Inszenierungsstil bietet dem wahrhaftigen Spiel der Protagonisten genau die richtige Folie, die unterstützt wird von der von den Schauspielern oft unbemerkten Kameratechnik. Vermutlich sind der „schnittfreien“ Aufnahmetechnik auch viele der ungekünstelt wirkenden Dialoge zu verdanken. Auch in der Entwicklung komödiantischer Szenen erweist sich Sinapi als Meister: Wenn Julie mit ihrem Zentimetermaß die Türen des Caravans abmisst, ob sie mit dem Rollstuhl zu passieren sind, liegen Tragik und Humor dicht beieinander - wie im wirklichen Leben, dem Sinapi ein fast märchenhaftes Beispiel vor Lebensbejahung und -freude vorführt.
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