Ratcatcher

- | Großbritannien/Frankreich 1999 | 92 Minuten

Regie: Lynne Ramsay

Die Beschreibung einer Kindheit in einem verfallenden Arbeiterviertel im Glasgow der 70er-Jahre. Ein zwölfjähriger Junge leidet an den Verhältnissen, schafft es jedoch immer wieder, sich mit seinen Spielen und seiner kindlichen Fantasie Freiräume und kleine Fluchten zu verschaffen. Der Erstlingsfilm zeichnet sich durch Milieugenauigkeit und Detailliebe aus. Bei allem Realismus erstarrt er nie in Tristesse, sondern findet immer wieder Ruhe in Momenten der atmosphärischen Aufhellung. Die eindrucksvolle Zeichnung eines kindlichen Universums wird von einem überzeugenden jugendlichen (Laien-)Darsteller getragen. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
RATCATCHER
Produktionsland
Großbritannien/Frankreich
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
A Holy Cow Film/Pathé Pictures/BBC/Arts Council of England/Lazennec/Le Studio Canal+
Regie
Lynne Ramsay
Buch
Lynne Ramsay
Kamera
Alwin H. Küchler
Musik
Rachel Portman
Schnitt
Lucia Zuchetti
Darsteller
William Eadie (James Gillespie) · Tommy Flanagan (Vater) · Mandy Matthews (Mutter) · Leanne Mullen (Margaret Anne) · John Miller (Kenny)
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Ein Junge tanzt, rollt sich langsam in die weiße Gardine ein, wie eine kleine Raupe, die sich einpuppt - eine Metamorphose, um Raum und Zeit zu entfliehen. Aber das Schimpfen der Mutter bringt ihn schnell wieder in die Realität zurück. Das Spiel der Fantasie und die Ohnmacht der Wirklichkeit sind die tragenden Elemente des Erstlingsfilms der schottischen Regisseurin Lynne Ramsay. James, ein schmächtiger 12-jähriger Junge mit weit abstehenden Ohren lebt Mitte der 70er-Jahre mit seiner Familie in einer verfallenden Arbeitersiedlung in Glasgow. Die alten Häuser wirken schäbig, einige sind schon verlassen, Hauseingänge und Fenster zugemauert. Wer hier noch leben muss, will weg, träumt von der versprochenen Neubau mit drei Zimmern und Bad. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Situation verschärft sich durch den Streik der Müllabfuhr, zwischen den Müllsäcken tummeln sich die Ratten, fröhlich und johlend machen die Kinder Jagd auf die Nager: Ratcatcher - Rattenfänger. James’ Vater trinkt gerne und ist ein pathetischer Fußballnarr, die Mutter nörgelt, die kleine Schwester petzt und die ältere verschwindet im städtischen Bus zu geheimnisvollen Rendezvous in der Innenstadt. Mit distanzierter Genauigkeit zeigt „Ratcatcher“ die Details des familiären Zusammenlebens, die Enge zwischen Fernsehen und Alkohol, aber auch kleine Augenblicke der Heiterkeit; dabei arbeitet der Film auf beeindruckende Weise mit Momenten der Stille, aber auch mit den Kontrasten von Hell und Dunkel. Detailgenau wird eine Kindheit in den 70er-Jahren beschrieben: das wöchentliche Bad in der Zinkwanne, die Läuse aus der Grundschule, der Streit um die Gummistiefel, um das Fernsehprogramm. James findet seine Gegenwelt zur familiären Enge draußen, in den Vorgärten, auf den Schuttplätzen und besonders am Wasser, am Kanal, für den 12-Jährigen Bedrohung und Faszination gleichzeitig. Der Ort für Schuldgefühle und ein dunkles Geheimnis, denn hier ist ein Spielgefährte ertrunken, und James hatte ihn ins Wasser gestoßen. Ein Ort vieler Geheimnisse; am Ufer gibt sich Margaret für die ersten sexuellen Spielchen der Jugendgang her, und auf dem Grunde des trüben Wassers liegt ihre Brille, die die Halbwüchsigen hinein geworfen haben. Unter den Jugendlichen herrscht eine grausam-fröhliche Hackordnung, doch der verhärmte James steht eher außerhalb der Gruppe. Zögerlich freundet er sich mit der 14-jährigen Margaret an, bei der Kindfrau findet er Geborgenheit im kindlichen Niemandsland zwischen älterer Schwester und Geliebter. Einen Traum ganz für sich allein findet er an der Endstation des Autobusses - in der leeren Neubausiedlung auf dem Haferfeld, auf dem er ganz allein durch die reifen Ähren tollt. Lynne Ramsay inszeniert die Konflikte ihres Protagonisten subtil und leise. Vieles wird nur angedeutet, eliptisch erzählt und über den Raum, über Orte, symbolisch dargestellt: der Kanal, das offene Fenster des Neubaus mit dem Blick hinaus aufs Haferfeld. Besonders beeindruckend ist die Leistung der kindlichen Laienschauspieler, durch deren Spiel über die poetische Dimension hinaus viele Momente eine fast dokumentarische Authentizität vermitteln. „Ratcatcher“ wird von einem distanzierten sozialen Realismus bestimmt, schildert in blassen Farben und Grautönen einen tristen Mikrokosmos. Aber trotz dieses Grundtons ist der Film in erster Linie fantasievoll, schildert eine absurde, grausam-kindliche Vision der Welt: die Fähigkeit, noch im letzten Müllsack ein Motiv zum Spielen zu finden. Unbedarfte Spiele, wenn ein Junge seine weiße Maus mit dem Luftballon „zum Mond schickt“, oder wenn man im Brackwasser des Kanals nach einem Barsch fischt und dabei fast ertrinkt. Oft überholt die Realität dabei die kindliche Fantasie, da marschiert die Armee ein, um die Müllsäcke zu entfernen. Sehr dicht auch die seltenen Momenten, in denen die Erwachsenen Kraft der Imagination zurückfinden, etwa wenn James’ Mutter zu den „Rock‘n’Roll“-Rhythmen ihrer Jugend tanzt. „Ratcatcher“ ist eine dunkle Milieubeschreibung, aber dabei wird der Realismus nie zum voyeuristischen Selbstzweck. Zwischen Wasser, Müll und Ratten, in der Suche nach Zugehörigkeit und einer beginnenden Geschlechtlichkeit konstruiert der Film bei aller Düsterkeit ein beeindruckendes kindliches Universum, das niemals in eine falsche Idylle oder verlogene Nostalgie abgleitet.
Kommentar verfassen

Kommentieren