Biopic | Polen 1999 | 90 Minuten

Regie: Lech Majewski

Filmischer Nachruf auf den polnischen Dichter Rafal Wojaczek, der durch seine schockierende Lyrik ebenso berühmt wurde wie auf Grund seines provokativen Lebensstils. Die pulsierende, stilistisch artifizielle Ergründung eines selbstgeschaffenen Lebensmythos, durch die eine exzentrische Künstlerbiografie zur vielschichtigen Chiffre für die Kunst avanciert. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
WOJACZEK
Produktionsland
Polen
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Filmcontract/TVP/Telewizyna Agencja Produkcji Teatralnej i Filmowej/Agencja Produkcji Filmowej Komitetu Kinematografii
Regie
Lech Majewski
Buch
Lech Majewski · Maciej Melecki
Kamera
Adam Sikora
Schnitt
Eljot Em
Darsteller
Dominika Ostalowska · Krzysztof Siwczyk · Elzbieta Okupska · Miroslawa Lombardo · Andrzej Mastalerz
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Biopic
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Diskussion
Den Dichter Rafal Wojaczek (1945-1971) umgibt in Polen eine Legende, die sich aus der Schockästhetik seiner Lyrik und der Lebensattitüde eines Rebellen speist: Radaumacher und Lump, deklarierter Alkoholiker, „Rebel without a cause“ auf ständigem Kollisionskurs mit der Staatsgewalt, Patient einer psychiatrischen Klinik, zugleich als Autodidakt eines der größten Talente der Nachkriegsliteratur, schließlich eine von der Aura des Dämonischen erleuchtete Ikone der Underground-Szene. Für seinen Nachruhm sorgte der selbstzerstörerische Lebensstil ebenso wie seine literarische Hinterlassenschaft: expressive Verse, die obsessiv um Sex, Tod, Hunger, Inzest und Blasphemie kreisen; eine in ihrer schonungslosen Offenheit fast naturalistische Lyrik, tabuverletzend und grenzüberschreitend, die mit ihren brutalen Bildern der menschlicher Physiologie und einer allgegenwärtigen Hässlichkeit verstörend und provokativ zugleich wirkte - irgendwo angesiedelt zwischen Lautréamonts „Gesängen des Maldoror“ und Jim Morrisons Exzessen. Zu der ästhetischen Provokation gesellte sich bei Wojaczek seine nonkonformistische Desperado-Haltung, eine geradezu wagemutige Lebensverachtung, die er mit furchtloser Inbrunst zelebrierte: Wie ein zum Tode Verurteilter schlug er um sich, ging durch Fenster, verstümmelte und erhängte sich, sprang aus dem dritten Stock oder schluckte eine Überdosis Schlaftabletten.

Diesem rebellischen Dichter mit Kultstatus hat der polnische Regisseur Lech Majewski in stilsicheren Schwarz-Weiß-Bildern ein posthumes Denkmal gesetzt. Sein filmischer Nachruf ist jedoch keine gewöhnliche Dichterbiografie; vor der tristen Kulisse des realexistierenden Sozialismus unternimmt Majewski vielmehr den lohnenden Versuch, einen selbstgeschaffenen Mythos zu ergründen: Rafal Wojaczek, ein Unzeitgemäßer, der im permanenten Alkoholrausch zwischen Lebensekel und Todessehnsucht changierte und sich selbst wie ein später Nachfahre Rimbauds in der Pose eines modernen poète maudit inszenierte, nahm sich mit nur 26 Jahren das Leben. Gleich zu Beginn fällt der zornige Poet durch die Fensterscheibe einer schäbigen Kneipe und stürzt zu Boden. Später wird er im Delirium vom Schreibtisch fallen, seinen Kopf in den Gasherd stecken, aus dem Fenster einer Wohnung im dritten Stock fliegen und hernach dem verdutzten Hausmeister im Innenhof der Mietskaserne erklären, er hätte es eilig gehabt. Ein Nachgeborener, der in einem rigiden System, das Individualismus als bürgerlichen Eskapismus denunziert, daran zugrunde geht, dass er um eine authentische Existenz gebracht wurde. In dieser verlogenen Welt, die von einem lähmenden Stillstand erfasst ist, stilisiert er sich selbst: als Erlöser mit offenen Handflächen vor einer Madonnen-Statue, als Hamlet in einem frisch ausgehobenen Grab, schließlich im Beichtstuhl als ein Sünder, der seine eigenen Strophen zitiert - Pose und Zitat als Schutzschild gegen die erstarrte Lebenswirklichkeit. Dennoch übt sich Majewski nicht in Schuldzuweisungen, sondern betrachtet die graue Vorzeit vielmehr aus einer eigentümlich mild-nostalgischen Perspektive, wodurch er das Geheimnis von Wojaczeks innerer Zerrissenheit letztlich wahrt.

Auch wenn bröckelnde Fassaden und Transparente mit hohlen Propaganda-Phrasen hier ein untrügliches Indiz für die gesellschaftspolitischen Realien sind, gelingt es Majewski auf diese Weise, die singuläre Biografie zur allgemein gültigen Metapher für ein Künstlerschicksal zu erheben, das sich so überall hätte vollenden können. Der morbide Exzentriker avanciert zur Chiffre für die Kunst als Refugium und für die selbsterwählte Isolation als Indikator einer unüberbrückbaren Entfremdung, die er bis zur Selbstvernichtung durchlebt. Diese Determination zeichnet auch die Außenseiter-Figuren in Jerzy Skolimowskis Filmen der 60er-Jahre und den vereinsamten Alkoholiker in Wojciech Jerzy Has’ suggestivem Psychogramm „Petla“ („Die Schlinge“, 1957) aus, an die „Wojaczek“ unweigerlich erinnert. Nach der Ausrufung des Kriegszustands im Jahr 1981 hatte Lech Majewski dieser Welt den Rücken gekehrt und war in die USA emigriert, wo er 1996 als Co-Autor an der Drehbuchvorlage für Julian Schnabels Film „Basquiat“ (fd 32 274) arbeitete; das Porträt des New Yorker Künstlers Jean-Michael Basquiat (1960-1988), der in den 80er-Jahren vom unbekannten Graffiti-Sprayer zum gefeierten Star der Kunstszene im Umkreis von Andy Warhols legendärer „Factory“ aufstieg, entwarf Majewski in Erinnerung an Rafal Wojaczek.
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