Ein Tag im September

Dokumentarfilm | USA/Großbritannien/Schweiz 1999 | 88 Minuten

Regie: Kevin Macdonald

Die Olympischen Spiele in München, die das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland weltweit revidieren sollten, werden am 5.9.1972 vom Anschlag eines palästinensischen Terrorkommandos überschattet. Die Gangster nehmen 13 israelische Sportler als Geiseln, von denen keiner die Aktion überleben wird. Ein bewegender Dokumentarfilm, der neben den privaten Schicksalen die Überforderung der deutschen Regierung und das Versagen der Polizeibehörden dokumentiert, die mit einem Terroranschlag bislang ungeahnten Ausmaßes konfrontiert wurden. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ONE DAY IN SEPTEMBER
Produktionsland
USA/Großbritannien/Schweiz
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Arthur Cohn Prod./BBC/British Screen/Dan Valley Film/European Co-Production Fund/Passion Pic./Soros Documentary Fund
Regie
Kevin Macdonald
Buch
Kevin Macdonald
Kamera
Neve Cunningham · Alwin H. Küchler
Musik
Alex Heffes · Craig Armstrong
Schnitt
Justine Wright
Länge
88 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Heimkino

Verleih DVD
Concorde (16:9, 1.78:1, DD2.0 engl./dt.)
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Diskussion
Der Spätsommer 1972 sollte der Zeitpunkt der heiteren Olympischen Spiele in München sein, Deutschlands erste sportliche Großveranstaltung, mit der das Bild des „hässlichen Deutschen“ revidiert werden sollte. Die Beteiligung der israelischen Delegation schien der Schritt in die wegweisende Richtung zu sein. Heiter begannen die Spiele, der US-Schwimmer Mark Spitz schwamm seine Goldmedaillen ein, die Stimmung im Olympischen Dorf war gelöst. Doch am 5. September um 4.42 Uhr schlug sie in schieren Schrecken um. Ein unbekanntes palästinensisches Terrorkommando namens „Schwarzer September“ nahm im Olympischen Dorf 13 israelische Geiseln und forderte die Freilassung von 200 Kampfgenossen, die in israelischen Gefängnissen ihre Haftstrafen verbüßten. Die eindeutige Position, als unerpressbar zu gelten, brachte die deutsche Regierung und die bayerischen Landesbehörden unter Zugzwang. Im Vergleich zu neueren Geiseldramen mag die nur 19 Stunden dauernde Aktion kurz erscheinen, in Bezug auf den polizeilichen Zugriff offenbaren sie jedoch eklatantes Unvermögen und verantwortungslose Selbstüberschätzung. Man versucht es mit einer Hinhaltetaktik, doch als die ersten Geiseln erschossen werden, liegen die Nerven blank. Als Spezialisten des israelischen Geheimdienstes Mossad ihre Hilfe anbieten, empfindet die Bundesregierung dies als eine unangemessene Einmischung - die Spiele gehen weiter wie geplant. Die Olympioniken jagen den Medaillen nach, die deutschen Sicherheitsbehörden der Zeit, längst ist ein Ultimatium gestellt worden: Es wird mit der Ermordung der restlichen elf Geiseln gedroht. Elf Stunden nach Beginn der Geiselnahme werden die Spiele unterbrochen, um 17 Uhr soll ein Sonderkommando (Freiwillige der regulären Polizei) das Gebäude stürmen. Der Einsatz scheitert kläglich: Ein Fernsehteam der DDR filmt und sendet alle Einzelheiten und spielt den Geiselnehmern dadurch (unwissentlich?) Informationen zu. Dann der dramatische Endpunkt: Die Palästinenser fordern mit den Geiseln den Abzug in ein arabisches Land; der Flugplatz Fürstenfeldbruck scheint geeignet, um die Rahmenbedingungen für eine „unblutige“ Lösung zu erfüllen. Fünf Scharfschützen beziehen Stellung (damals gab es keine ausgebildeten Scharfschützen in den Reihen der Polizei) und warten auf den Einsatzbefehl. Zu diesem Zeitpunkt geht man von vier bis fünf Geiselnehmern aus, in Wirklichkeit sind es acht - sogar für ausgebildete Scharfschützen besteht nicht der Hauch einer Chance. Im letzten Augenblick soll der Einsatz abgeblasen werden, doch die Kommunikation funktioniert nicht. Die „Scharfschützen“ eröffnen das Feuer, nach zweistündigem Kampf sind alle Geiseln und fünf Terroristen tot. Makabre Nebenepisode: Ein Hubschrauberpilot und ein Scharfschütze geraten ins Schussfeld der eigenen Leute und werden schwer verletzt. Geschichtlicher Nachklapp: Sieben Wochen nach ihrer Inhaftierung werden die drei überlebenden Terroristen ohne große Gegenwehr freigepresst. Zu diesem Zweck entführen Palästinenser in Beirut eine Lufthansa-Maschine. Merkwürdig, dass in dem Flugzeug nur elf Passagiere saßen, unter ihnen keine Frauen und Kinder. Kevin MacDonald hat mit seinem spannenden, „Oscar“-prämiierten Dokumentarfilm die Zusammenhänge focusiert und sich bemüht, alle Seiten und ihre Motivationen zu Wort kommen zu lassen: die deutschen Verantwortlichen, die die Chance Deutschlands nutzen wollten, endlich wieder eine Stimme im Konzert der Völkergemeinschaft zu sein; die Palästinenser, die die gefährliche Gemengelage zwischen Sport und Politik frühzeitig analysiert hatten und sich plötzlich ein weltweites Medienforum verschaffen konnten; die Israelis, die keinen Grund hatten, ihre Ressentiments gegen Deutschland vollständig abzubauen. In erster Linie nutzt MacDonald found-footage, das er in der Chronologie der Ereignisse montiert. Doch wenn er die im zeitlichen Abstand von fast 30 Jahren aufgenommenen Interviews der Beteiligten dazwischen schneidet - unter ihnen auch das mit dem Ex-Terroristen Jamal Al Gahey, dem einzigen Überlebenden der Aktion (seine mit ihm freigepressten Genossen wurden von der Mossad getötet) - , dann schafft er eine Distanz, die den Zuschauer bei der Stange hält, sein Interesse an den ungeheuerlichen Vorgängen weckt, verschiedene Blickwinkel eröffnet. Schlaglichtartig wird auch die Informationspolitik der damaligen Bundesregierung beleuchtet, die noch 19 Stunden nach der Geiselnahme deren (fast) glückliches Ende verkündete: alle Terroristen tot, die Geiseln frei. Eine Botschaft, die in den Weltmedien mit Skepsis aufgenommen wurde und bald revidiert werden musste. Verknüpft wird dies mit einer dynamischen Montage, in der die Mosaiksteine zur überzeugenden Einheit verschmelzen. MacDonalds betreibt die bewusste Emotionalisierung des Publikums: Er drosselt die Geschwindigkeit von sportiver Hektik mit stakkatoartigen Schnitten zu bleierner Langsamkeit, hinterfragt die Aussagen durch den Zusammenschnitt, ohne eine einzige Frage stellen zu müssen, und nutzt einen narrativen Faden, um seiner distanziert vorgetragenen Geschichte ein menschliches Antlitz zu verleihen. Erzählt wird eigentlich die Leidensgeschichte der holländischen Witwe des israelischen Fechttrainers André Spitzer. Beide waren knapp ein Jahr verheiratet, als Spitzer nach München fuhr; am 5. September sah sie ihn zum letzten Mal - im Fernsehen, als Geisel. So werden Ereignisse vom historischen Sockel geholt, um ihnen eine Gültigkeit zu verleihen, auch über den zeitlichen Abstand hinaus.
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