Die Stille nach dem Schuss

Drama | Deutschland 2000 | 101 Minuten

Regie: Volker Schlöndorff

Eine RAF-Terroristin, die in der DDR untertauchte, um dort ein bürgerliches Leben im real existierenden Sozialismus zu führen, wird nach dem Fall der Mauer enttarnt und bei ihrem letzten Fluchtversuch in den Westen von Grenzsoldaten der DDR erschossen. Ein überzeugender Versuch deutsch-deutscher Geschichtsaufarbeitung. Durch die Zusammenarbeit des DDR-kundigen Autors mit dem auch filmisch der 68er-Generation verbundenen Regisseur entstand ein pointierter Film von einer im deutschen Nachkriegsfilm selten erlebten Authentizität. Vor allem besticht das berührende Spiel der beiden Hauptdarstellerinnen, das die Grenzen von Fiktion und Realität aufhebt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Babelsberg Film Prod./Mitteldeutscher Filmkontor/MDR/arte
Regie
Volker Schlöndorff
Buch
Wolfgang Kohlhaase · Volker Schlöndorff
Kamera
Andreas Höfer
Schnitt
Peter Przygodda
Darsteller
Bibiana Beglau (Rita) · Martin Wuttke (Hull) · Nadja Uhl (Tatjana) · Harald Schrott (Andi) · Alexander Beyer (Jochen)
Länge
101 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs und der Hauptdarstellerin Bibiana Beglau.

Verleih DVD
Kinowelt (16:9, 1.85:1, DS dt.)
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Diskussion
Rita Vogt erinnert sich. Sie erinnert sich an die 70er-Jahre, als sie und ihre Freunde in den Untergrund gingen, um die Welt zu verbessern. Anfangs verteilten sie bei den Banküberfällen noch Negerküsse an das verdutzte Publikum, später hat Rita in Paris einen Polizisten erschossen. Recht früh schon, beim Transit in Berlin-Schönefeld, gibt es einen Kontakt zum MfS (Ministerium für Staatsschutz) in der DDR, auch nach einer blutigen Gefangenenbefreiung flieht man erst einmal nach Ost-Berlin. Als Rita nach dem Polizistenmord aussteigen will, erinnert sie sich an den Stasi-Offizier Erwin Hull. Die Aussteiger träumen davon, ihr Know-how international bei den Befreiungskämpfen in Afrika „einzubringen“, doch Hull rät ab: „Da sind doch alle schwarz. Da fallt ihr doch bloß auf!“ Schließlich steht das Angebot, unter falschem Namen im Paradies der Werktätigen dem Sozialismus zu dienen. Einzige Bedingung: Kein weiterer Kontakt zwischen den Untergetauchten. Rita lässt sich auf das Leben in der DDR ein, arbeitet im VEB Modedruck, freundet sich dort mit der rebellischen Alkoholikerin Tatjana an. Doch als im West-Fernsehen wieder einmal Ritas Fahndungsfoto gezeigt wird, ist sie gezwungen, ein drittes Leben mit neuer Legende zu beginnen. Während der Kinderbetreuung an der Ostsee verliebt sie sich in den Physiker Jochen, bis der eine Stelle in der Sowjetunion angeboten bekommt und er Rita als „Mutter meiner Kinder“ mitnehmen möchte. Doch eine Ausreise in die UdSSR übersteigt sogar die Möglichkeit des MfS. Rita offenbart Jochen ihre prekäre Vergangenheit und beendet damit die Beziehung. Dann fällt die Mauer, die untergetauchten Terroristen fliegen auf. Hulls Vorgesetzter deutet sogar die Möglichkeit an, dass es diesbezüglich informelle Kontakte zwischen den Nachrichtendiensten gegeben haben könnte. Ein letztes Mal versucht Rita zu fliehen, doch an der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland wird sie von Grenzern der DDR erschossen.

Wer hat sich da eigentlich erinnert? „Alles ist so gewesen. Nichts war genau so“, liest man im Abspann des Films, und vor Jahren, als Filme wie Margarethe von Trottas „Die bleierne Zeit“ (fd 23 135) oder Reinhard Hauffs „Stammheim“ (fd 25 469) noch mit einer politischen Rezeption rechnen durften, wäre diese windelweiche Distanzierung von Authentizitätsansprüchen, Faktentreue oder präziser Recherche gewiss das Ende der Debatte gewesen. Inge Viett, die im Vorfeld der Premiere nicht müde wurde zu betonen, dass es sich auch bei diesem Film von Volker Schlöndorff um eine nicht-autorisierte Literaturverfilmung handele, nämlich die Verfilmung ihrer Autobiografie „Nie war ich furchtloser“ (1996), musste deshalb den Film verfehlen, weil sie genau diese Ebene einklagte. Davon „befreit“ greifen Schlöndorff und sein Drehbuchautor Kohlhaase tief in den stereotypen Fundus medial-kodifizierter Wirklichkeiten, um Bilder (und Worte) für die Rekonstruktion dreier deutscher Fantasmen zu finden: den RAF-Alltag, den DDR-Alltag und den Sozialismus. Nicht umsonst erzählt hier eine Stimme aus dem Jenseits. Sollte es sich bei „Stammheim“ oder „Die bleierne Zeit“ noch um Tragödien gehandelt haben und suchte Philip Gröning 1992 in „Die Terroristen“ (fd 30 113) noch vergeblich nach der politischen Motivation der Akteure der vierten, fünften Generation, so lassen Schlöndorff/Kohlhase Politik nur noch als Verkleidung einer existenziellen Problematik zu, weshalb einschlägige Aussagen beider Seiten (der Terroristen und der Mitarbeiter des MfS) papieren und irgendwie unpassend daherkommen.

„Die Stille nach dem Schuss“ erzählt aus quasi post-ideologischer Perspektive die Geschichte einer radikalen Politisierung als Mummenschanz im Stile einer doppelbödigen Farce. Dem Film tut sein boshafter Blick gut, denn tatsächlich ist diese Geschichte derart bestechend und grotesk, dass sie erzählt werden muss: Unter dem Fahndungsdruck der Polizei hatten sich einige „umherschweifende Hasch-Rebellen“ für ein angepasstes Leben im Kleinbürgermief des real existierenden Sozialismus entschieden. So gesehen, offenbart der Film die ganze Perfidie, die seinerzeit in dem bösgemeinten Ratschlag an die studentischen Störenfriede „Geht doch nach drüben!“ enthalten war. Drüben, wo zwar offiziell für Nicaragua gesammelt wird, aber jemand, der dann wirklich spendet, gleich unangenehm auffällt, wo die Abscheu vor den Terroristen derjenigen in München oder Flensburg verdächtig ähnelt, wo die Bürger innerlich längst vor dem Fall der Mauer gleichgeschaltet sind, wo letztlich Rita in der Werkskantine als Kassandra der Vereinigung in einer flammenden Rede ohne Antwort das kommende Unheil beschwört. Ausgerechnet Rita, die gar nicht wegen der Politik, sondern aus Liebe zur Terroristin wurde (und dann aus enttäuschter Liebe dem Terrorismus wieder abschwor), durchschreitet die Welt dieses Films wie eine Fremde, fremd, wie auch der abstrakte Traum vom Sozialismus erscheint, der hier die Terroristen und die Stasi eint.

In einer Vielzahl deutsch-deutscher Spiegeleffekte nimmt sich der Film eine andere Parole von „1968“ vor: „Das Private ist das Politische“, allerdings hier auf einem Abstraktionsniveau, dass man meint, es mit der Verfilmung eines ganz anderen Stücks Literatur, nämlich Luhmanns „Liebe als Passion“, zu tun zu haben: Zur Disposition stehen die emotionalen „Spiel-Räume“ beim Leben unter/mit einer „Legende“. Wie kommuniziert man „das Politische“? Wie kommuniziert man seine Gefühle? Wie reagiert man darauf, wenn man von der Frau, die man heiraten will, erfährt, dass sie eine im kapitalistischen Ausland gesuchte Terroristin ist? Und: Wenn man ein solches Geständnis macht, dann geht man das Risiko ein, die Liebe zu beenden. Aber kann die Liebe/das Politische auf der Grundlage eines Geheimnisses gelebt werden? In ihrer Autobiografie schreibt Inge Viett: „Der Westen ist nicht beschreibbar. Die Diskussionen in meinem Arbeitskollektiv endeten in der Regel mit Vergleichen äußerer Erscheinungen: Trabi gegen Audi, Rügen gegen Mallorca (...). Wie erkläre ich Verdinglichung, Warenbeziehungen, soziale Kälte, Entsolidarisierung?“ Terrorismus oder DDR sind dieser Geschichte akzidentiell - man könnte sie ähnlich auch über den NS-Literaturwissenschaftler Hans Schwerte erzählen - , andererseits aber doch nötig für die letzte Volte. Wenn Hull ganz zum Schluss erfährt, dass westdeutsche Geheimdienste von der ganzen Aktion gewusst haben könnten, bekommt die Geschichte einen weiteren, diesmal kafkaesken Schub, der allerdings lediglich retrospektiv möglich wird: Das „Untertauchen“ im Arbeiter- und Bauernstaats gerät zu einem sadistischen Abschiebemanöver in die „Strafkolonie“.
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