Liebe Last Lust

Drama | Frankreich 2000 | 173 Minuten

Regie: Olivier Assayas

Ein 30 Jahre umspannendes Drama rund um eine Porzellanhersteller-Dynastie in Limoges vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Der Erbe der wohlhabenden Familie hat sich von dem Familiengeschäft losgesagt und arbeitet als Pastor mit Frau und Kind auf dem Land; doch die Ehe geht in die Brüche. Er verliebt sich in eine andere Frau und übernimmt nach dem Tod des Vaters die Leitung des Porzellanwerks. Doch das neue Glück mit der Geliebten droht an gesellschaftlichen Ressentiments, den Zeitumständen sowie an der Unsicherheit des Mannes zu zerbrechen. Die Literaturverfilmung entfaltet ihre wechselvolle Geschichte als bestechendes Zeitbild der bürgerlichen Gesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts sowie als Reflexion über die Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit des Glücks. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LES DESTINÉES SENTIMENTALES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Arena Films
Regie
Olivier Assayas
Buch
Jacques Fieschi · Olivier Assayas
Kamera
Eric Gautier
Musik
Guillaume Lekeu
Schnitt
Luc Barnier
Darsteller
Emmanuelle Béart (Pauline) · Charles Berling (Jean Barnery) · Isabelle Huppert (Nathalie) · Olivier Perrier (Philippe Pommerel) · Dominique Reymond (Julie Desca)
Länge
173 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
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Liebes- und Familiensaga von Olivier Assayas um eine Porzellanhersteller-Dynastie zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Diskussion

Es gehört sich für französische Filmemacher eines gewissen Ranges, zumindest einmal einen Kostümfilm zu drehen, egal ob aus Ehrgeiz oder Gepflogenheit. Mit seinem Film „Les destinées sentimentales“ (deutscher Titel: „Liebe, Last, Lust“) hat auch Olivier Assayas schon im Jahr 2000 diese Aufgabe bewältigt – und das durchaus mit der ihm so eigenen Leichtigkeit, die sich aus der dynamischen Unrast der Kamera, dem elliptischen, unaufgeregten Springen durch die Narration und dem impulsiven Schnitt zusammensetzt.

Der Film, eine Adaption des dem rechten Lager zugerechneten Autoren und manischen Briefschreibers Jacques Chardonne, folgt in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts den melodramatischen Konflikten rund um den protestantischen Pfarrer Jean (Charles Berling). Dieser befindet sich inmitten einer schwierigen Scheidung von Nathalie (Isabelle Huppert), mit der er eine gemeinsame Tochter hat; Jean hat sich in die deutlich jüngere Pauline (Emmanuelle Béart) verliebt. In der Folge geht es um verschiedene Ansätze, um glücklich zu werden: Liebe oder Arbeit, Freiheit oder Konformität.

Vorsicht, zerbrechlich!

Dass die Geschichte gleichermaßen von einer Porzellan-Dynastie erzählt, die mit dem Schicksal Jeans verbunden ist, ist kein Zufall, denn das Glück ist und bleibt zerbrechlich. Das liegt zum einen, ganz den Gesetzen des Melodrams folgend, an Gesellschaft, Schicksal und Familie, die bestimmte Formen des Glücks nicht akzeptieren oder zulassen; zum anderen an den inneren Regungen und Zweifeln Jeans, der sich des Glücks nie sicher ist und es immer dann in Frage stellt, wenn er es gefunden hat. So fragt Jean Pauline während ihres lange Zeit harmonischen Zusammenlebens in der Schweiz vielsagend, ob man die Liebe einfach als gegeben hinnehmen solle oder sie jeden Tag hinterfragen müsse.

Man merkt schnell: Der trotz aller gegenteiligen Sehnsüchte zukünftige Porzellanfabrikant weiß nicht, was er will. Obwohl sich das auch ganz urteilsfrei über manches Werk von Assayas sagen ließe, wirken seine Bilder hier sehr selbstbewusst. Die beiden Herzen, die in diesem Filmemacher schlagen, treffen sich in der historischen Vorlage: hier der Proustianer, der beständig über die Vergangenheit sinniert, sich in epischen Bewegungen an Stimmungen übt, die längst vergangen sind, dort der von der Gegenwart und Moderne besessene Kinoenthusiast, der stets ein Stück Wirklichkeitserfahrung in seine Filme transportieren möchte, seien es Chat-Nachrichten, Musikstücke oder, wie hier, die widersprüchlichen Gedanken derer, die das Glück suchen.

Dabei bekommt man das Gefühl, dass der Film und mit ihm das Leben schneller läuft, als man es verarbeiten kann. Es gibt immer schon die nächste Entscheidung, bevor es die Zeit gibt, sich zu überlegen, ob die vorige die richtige war. Dieses Gefühl, dass man aus dem Leben kennt, wird von gezielten Kamerabewegungen betont. So schwenkt die Kamera reißend nach rechts, als Jean Pauline sagt, dass ihm die Geschäftsführung der Porzellanfabrik angeboten wurde.

Olivier Assayas hat seinen Ansatz zur Kameraarbeit einmal mit Pinselstrichen verglichen. Kein Bild wird jemals ganz, alles löst sich bereits im Werden auf. Das spürt man umso stärker, weil der Film gleich drei Jahrzehnte abdeckt und mit beinahe drei Stunden Laufzeit die Dauer selbst zum Thema macht. Mit ihr kommt die Flüchtigkeit, die man immer erst erkennt, wenn etwas schon vergangen ist.

Der Rührung gegenüber gleichgültig

Zumindest gilt das für Jean; Pauline hat das Glück eigentlich erkannt. Nur ist sie Opfer der patriarchal-kapitalistischen Gesellschaft, die andere Werte hochhält als die Liebe. Etwas frisst sich durch diesen Film, ein Geschwür. Besser als der Dichter Paul Valéry in einem seiner „Carnets“, das am Ende des Films vorgelesen wird, kann man es nicht beschreiben: „Ein italienischer Gärtner scharrt den Boden mit schläfrigen Rechen. Plötzlich redet er in seinem Dialekt, der klingt in der Mittagsstille und mischt sich mit dem speziellen Geräusch des Rechens, der den Kies bewegt, als wollte er sagen: Arbeit ist solch sinnloses Tun.“

Inmitten der aufgeladenen Konflikte lässt Assayas kaum Rührung zu. Das Leben ist der Rührung gegenüber gleichgültig, scheint er zu sagen. Dieser Feststellung entspricht die Szene, in der Jean Pauline bittet, sich im Berglift umzudrehen, als dieser sich über dem Thunersee erhebt. Erst sieht man ihren Blick, und als das nächste Bild entblößt, was sie sieht, scheint die eigentliche Aussicht bereits vorbei und man erahnt den See nur noch hinter einigen Bäumen. Es gibt keine Zeit für die Postkarten, das gewöhnliche Innehalten in Historienfilmen verliert sich hier im bedingungslosen Vorwärtsdrang, und so ist es genau jenes Stürmen und Drängen, das Assayas selbst auszeichnet, in dem der Filmemacher auch sein eigenes mögliches Ende erahnt. Nicht nur in diesem Sinn ist Assayas hier das geglückt, was sonst immer nur von Historienfilmen behauptet wird: Er hat die Vorlage ins Jetzt verfrachtet.

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