Die Gefangene

Drama | Frankreich 2000 | 108 Minuten

Regie: Chantal Akerman

Ein junger Mann ist besessen von seiner Liebe und seiner Eifersucht zu einer jungen Frau. Er hält sie wie eine Gefangene in seiner Wohnung, verfolgt jeden ihrer Schritte und quält sie mit der Frage, ob sie ihn wirklich liebt. Als die Frau, die auch Frauen liebt, ihm eröffnet, dass sie ihn verlassen will, reagiert er gelassen, doch sie verlässt ihn auf andere Weise, als er es sich vorstellt. Ruhige, konzentrierte Studie über Liebesbeziehungen und Alleinsein nach einem Roman von Marcel Proust, voller innerer Spannung als zeitlose Diskussionsgrundlage mit Bildern und Worten ins Szene gesetzt, bei denen es auf jedes Detail ankommt. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
LA CAPTIVE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Gemini Films/Arte France Cinéma/Canal +/Gimages 3/Centre National de la Cinematographie
Regie
Chantal Akerman
Buch
Chantal Akerman · Eric de Kuyper
Kamera
Sabine Lancelin
Schnitt
Claire Atherton
Darsteller
Stanislas Merhar (Simon) · Sylvie Testud (Ariane) · Olivia Bonamy (Andrée) · Liliane Rovère (Françoise) · Françoise Bertin (Großmutter)
Länge
108 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama | Liebesfilm | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Das Meer bei Nacht, gefilmt mit Super 8. Nur das Geräusch des Projektors begleitet die Bilder des stummen, unscharfen Home Movies. Zwei junge Frauen umarmen sich fröhlich und lachend im Wasser. Die eine sagt etwas. Der Mann am Projektor spult die Stelle ein paar Mal vor und zurück, bis er anhand der Mundbewegungen die Worte erkennt: „Je vous aime bien“ („Ich habe Sie gern“). Was sagen Bilder, was die Worte? Mit dieser Anfangssequenz will die belgische Regisseurin Chantal Akerman die Zuschauer animieren, auf Details zu achten, auf jedes Bild und jedes Wort. In diesem Punkt ist sie ganz dicht bei Marcel Proust, dessen Roman „Die Gefangene“ (aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) sie als Basis für ihre filmische Meditation über die Liebe als ewige Ungewissheit und die komplizierte Beziehung zwischen Mann und Frau nahm. Die Gefangene, das ist Ariane, eine hübsche junge Frau, die in dem großen luxuriösen Apartment von Simon lebt. Simon hat sie permanent im Auge, er überwacht sie, er will alles über diese Frau wissen, die er abgöttisch liebt. Auch wenn er sie nicht einsperrt, ist sie seine Gefangene, denn wenn sie das Haus verlässt, verfolgt er sie. Der Zuschauer erlebt es aus der Perspektive von Simon. Ariane sieht man dabei immer nur von hinten, sei es im Sportwagen oder zu Fuß im engen Kleid, wie sie mit ihren langen lockigen Haaren die Straße entlang geht. Simon folgt ihr in einigem Abstand, seine Gedanken, die Unsicherheiten, Zweifel und Befürchtungen liegen zuweilen als Off-Stimme über dem Geschehen. Auch wenn sich Ariane nie mit einem anderen trifft, ist Simon beunruhigt. „Ich glaube, ich bin verrückt“, sagt er einmal zu Ariane, die schweigt – wie fast immer. Ihre Beziehung ist von einer merkwürdigen Kühle und Distanziertheit geprägt, die zwar auf gegenseitigem Respekt beruht, aber vor allem eine Liebe markiert, die genauso leer ist wie die großen Räume im altmodisch ausgestatteten Apartment. Zwischen den Liebenden ist eine Wand, durchsichtig und undurchsichtig zugleich, so wie das geriffelte Glas zwischen seiner und ihrer Badewanne in der schönsten Szene des Films, wenn er sie beobachtet und nur ahnen kann, dass sie es ist. Ob Ariane ihn wirklich liebt, wird nie ganz klar, sicher ist aber, dass sie Frauen liebt, vor allem Andrée, die etwa gleichaltrige Freundin, mit der sie auf dem Super-8-Film zu sehen war. Aber Simon will oder kann das gar nicht registrieren, er fragt sogar Andrée um Rat, ob er Ariane heiraten soll. Dann unternimmt Ariane einen Ausbruchsversuch, sie will ihn verlassen. In seiner Liebe akzeptiert er auch das und fährt sie sogar zu dem Landhaus, wo sie leben will. Auf der Fahrt – nun sieht man beide von vorne – versucht er sie zurückzugewinnen. Sie lehnt ab. Schließlich aber fahren sie doch zusammen wieder weg und übernachten in einem Hotel am Meer. Als es dunkel ist, geht er schwimmen, weil er meint, sie wäre auch im Wasser. Doch er findet sie nicht. Am nächsten Tag sieht man ihn allein als Geretteten in einem Schlauchboot. Ob Ariane ertrunken oder nur verschwunden ist, weiß niemand. Lebenslustig und spröde zugleich ist Sylvie Testud als Ariane, die einzige Figur, die wirklich zu leben scheint und als geheimnisvolles, undurchsichtigen Wesen den ganzen Film trägt. Mit ihrem Gefangensein scheint Ariane gar nicht so unglücklich zu sein, ermöglicht es ihr doch ein angenehmes Leben. Sie hat sich mit Simon, dem reichen Erben, arrangiert. Wenn er sie fragt: „Braucht man Mut, um eine Frau zu lieben?“, dann antwortet sie: „Man braucht für alles Mut“, so wie sie auf alle seine Fragen stets ruhig und philosophisch antwortet, was seine Liebe und seine Verzweifelung noch größer macht. Stanislas Merhar als Simon bleibt trotz seiner ausschließlich um Liebe und Eifersucht kreisenden Gedanken äußerlich extrem kalt und abweisend. In Wahrheit ist er der Gefangene, nicht Ariane, denn Simon wird von seinen eigenen Gedanken überwacht, einem Gefängnis, in das er sich selbst manöveriert hat und aus dem er sich aus eigener Kraft nicht befreien kann. Wie bei Proust siezen sich die Liebenden, die Atmosphäre ist gepflegt, das Dekor erinnert eher ans vergangene Jahrhundert, die Kleidung an die Jetztzeit. Aber die Distanz und die Diskrepanz, aus der der Film seine Spannung bezieht, rührt weder daher, noch aus der Grundsituation von Gefangener und Bewacher, wie sie seit den griechischen Tragödien beschrieben wird. Die Tragik – und damit die Botschaft des Films- liegt darin, dass im Grunde jeder allein ist, Liebende sind es erst recht. Oder wie Ariane zu Simon sagt: „Ich habe heute in einem Buch gelesen, dass der Zufall, die Begierde, die Angst und der Tod die Männer und die Frauen allein lassen“. Natürlich ist dieser Film, der – wie so oft bei Chantal Akerman – von langsamen Bewegungen, langsamen gesprochenen Worten und einer sanft durch die Räume gleitenden Kamera geprägt. Nur einmal schleift Simon Ariane ganz brutal und schnell weg aus dem Museum, wo sie mit lauter Frauen zusammen ist. Meist beschränkt er sich daraus, sie nur zu verfolgen, und tut sich damit selbst weh, innerlich. Was „Die Gefangene“ zu einem so vielschichtigen Film macht, ist der Umstand, dass das gesamte Spektrum der Beziehungen zwischen Mann und Frau angedeutet wird, gesehen aus der Perspektive des Mannes, was dem Film eine große innere Spannung gibt und ihn fast zu einem Thriller à la Hitchcock macht und damit zu einem Gegenstück der geschwätzigen Liebesfilme von Eric Rohmer, wo es mehr um die falschen und oberflächlichen Vorstellungen der Liebenden voneinander geht, die das Leben so schwer machen. „Ich ziehe die Wahrheit vor, auch wenn sie wehtut“, meint Simon. „Mit gefällt es, dass es eine Welt gibt, zu der ich keinen Zutritt sage“, sagt dagegen Ariane und meint doch, dass Simon nicht alles wissen muss. „Die Gefangene“ ist ein ernster Film, auch ein intellektueller Film, wie er inzwischen selbst im französischen Kino selten geworden ist. Vor allem eröffnet er eine neue Tür für ein feministisches Sujet, das Proust wohl nicht im Sinn hatte: Wenn Ariane Simon am Ende frei lässt und er sich allein auf dem Meer findet, hat sie, die wahre Herrin, ihm die Möglichkeit für einen Neuanfang gegeben.
Kommentar verfassen

Kommentieren