Jenseits von Tibet

- | Deutschland 2000 | 89 Minuten

Regie: Solveig Klaßen

Porträt der Beziehung einer deutschen Punk-Musikerin und eines tibetischen Mönchs, die zusammen mit ihrer dreijährigen Tochter in Berlin leben. Asketisch-strenger Dokumentarfilm, der seine dramaturgische Spannung aus der sukzessiven Enthüllung biografischer Hintergründe gewinnt, ohne daraus mehr als eine Skizze fertigen zu wollen. Der den Protagonisten verwandte Gestus der Gelassenheit schränkt zwar das analytische Potenzial des Films ein, vermittelt aber eine offene, weltzugewandte Haltung und Respekt vor ungewöhnlichen Lebensentwürfen. (Teils O.m.d.U.) - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Lichtblick Film- und Fernsehproduktion/dffb
Regie
Solveig Klaßen
Buch
Solveig Klaßen
Kamera
Lutz Reitemeier
Musik
Hannes Perkunder
Schnitt
Andreas Zitzmann · Gustav Hamos
Länge
89 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
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Diskussion
Zwei Menschen liegen auf einer grünen Wiese und schauen sich an; über ihnen strahlt ein tiefblauer, fast wolkenloser Himmel. „Bist Du glücklich?“, fragt die Frau, was der Mann bejaht. Mit dieser emblematischen Szene beginnt Solveig Klaßens Porträt zweier ungewöhnlicher Menschen: der deutschen Punkmusikern Santrra Oxyd und dem tibetischen Lama Ngawang Gelek. Deren Wege hatte sich vor einigen Jahren in der Nähe von Dharesalam gekreuzt. Heute leben sie zusammen mit ihrer dreijährigen Tochter Tara in Berlin. Was „Glück“ für sie bedeutet, entfaltet der Dokumentarfilm mit asketisch-strengen Mitteln, meist in Form von Interviews und einigen teilnehmenden Beobachtungen. Die dramaturgische Spannung entsteht dabei aus der kunstvoll montierten Enthüllung biografischer Hintergründe, die lebens- und zeitgeschichtliche Details zu Tage fördert, ohne daraus mehr als eine Skizze fertigen zu wollen. Bevor Sandra Herbener, wie die akkordeonspielende Musikerin mit bürgerlichem Namen heißt, Mitte der 90er-Jahre als „Zen-Nonne“ nach Indien reiste, lagen harte Zeiten hinter ihr, in denen sie sich mit Hilfe der Musik und des Buddhismus aus ihrer Drogenabhängigkeit befreite. Schon als 14-Jährige war sie aus den engen Verhältnissen ihrer württembergischen Herkunft geflohen und irgendwann in Berlin gestrandet, wo sie in der Punk-Szene Fuß fasste. Ngawang Gelek hingegen stammt aus einer armen tibetische Nomadenfamilie. Als Kind erkannte man in ihm die sechste Reinkarnation eines Lamas; er ging ins Kloster und engagierte sich gegen die chinesische Besetzung Tibets, was Folter und Gefängnis nach sich zog. 1989 floh er nach Nordindien, wo er sich in den Bergen eine Hütte baute und als Einsiedler in Meditation und Gebet lebte. Was die energiegeladene Rebellin mit der tiefen Stimme und den immer freundlich lächelnden Mönch zum Paar werden ließ, entzieht sich der (filmischen) Verifizierung: Für Sandra war es Liebe auf den ersten Blick, für Gelek das Karma aus einem früheren Leben. Vielleicht waren es auch noch andere Beweggründe, die dabei eine Rolle spielten, jetzt aber nicht mehr erinnert werden oder noch gar nie reflektiert wurden; zumindest kaschiert der Film jene Bemerkung nicht, die einer märchenhaften Fiktion entgehen stehen. Von einer „Scheinehe“ ist anfangs die Rede, die dem Mönch den Aufenthalt in Deutschland ermöglichen sollte; auch berichtet er von seinen Problemen, mit dem Stadtleben in Berlin zu recht zu kommen, was sich lange in einer starken Eifersucht niederschlug. Irgendwie aber meisterten sie alle Schwierigkeiten, auch wenn die materielle Basis ihres Familienlebens eher karg ist: Sandra schlägt sich in der Off-Musikszene durch, Gelek betet/bettelt täglich in der Fußgängerzone und lehrt Meditation. Von beiden geht jedoch eine tiefe innere Ruhe aus, die ihren Erinnerungen eine starke Glaubwürdigkeit verleiht und auch bizarre Szenen nicht ins Komische abrutschen lässt wie jene während eines Ausflugs in Sandras Heimat, als die kleinbürgerliche Spießigkeit fröhliche Urstände feiert. Es ist die Stärke dieses Dokumentarfilms, dass er diesen Gestus einer sympathisch-offenen Zuwendung aufgreifen kann und den extrem unterschiedlichen Welten – von der nomadischen Jurte bis zum weißen Bungalow – mit einer den Protagonisten verwandten Gelassenheit begegnet. Das schränkt zwar seine analytische Urteilskraft ein, weil vieles wie hingetupft oder zufällig wirkt, konzentriert dafür aber den Blick auf zwei Menschen, die nicht nur über die enorme kulturelle Kluft, sondern auch über viele individuelle Abgründe Brücken geschlagen haben. Was unter „Vermischtes“ als „Punkerin liebt Mönch“ auftauchen könnte, tritt hier als der Alltag von zwei Menschen vor Augen, für die man nach 90 Minuten viel Respekt empfindet. Die Frage nach dem Glück findet deshalb keine exemplarische, sondern nur eine individuelle Antwort, auch wenn die immer wiederkehrenden Aufnahmen des Himmels – über Tibet, Berlin oder dem Schwarzwald – wie ein visueller Bogen wirken, der den Horizont aller möglichen Antworten überspannt: als blaues Band oder als Metapher für umfassendere Zusammenhänge.
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