Gotteszell - Ein Frauengefängnis

- | Deutschland 2001 | 104 Minuten

Regie: Helga Reidemeister

Im schwäbischen Gotteszell, einem umgebauten Kloster, werden seit dem 18. Jahrhundert straffällig gewordene Frauen eingesperrt. Heute beherbergt der Gebäudekomplex das einzige Frauengefängnis in Baden-Württemberg. Der Dokumentarfilm macht sich auf die Suche nach den Menschen hinter den Prozessakten, wobei er auf wohltuende Weise die Grenzen zwischen Tätern und Opfern, Gut und Böse, Innen und Außen verwischt. Ohne Polemik stellt er auch das öffentlich sanktionierte Verhältnis von Schuld und Sühne zur Disposition. Indem die Filmemacherin auf einen allwissenden Autorenstandpunkt verzichtet, gelang ihr ein glaubhaft politischer Film in scheinbar entpolitisierter Zeit. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Helga-Reidemeister-Filmprod./SWR/BR
Regie
Helga Reidemeister
Buch
Helga Reidemeister
Kamera
Sophie Maintigneux
Musik
Johann Sebastian Bach
Schnitt
Dörte Völz-Mammarella
Länge
104 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
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Diskussion
In Margarethe von Trottas RAF-Replik „Die bleierne Zeit“ (fd 23 135) stellt Barbara Sukowa als mutmaßliche Schwester Gudrun Ensslins angesichts des eigens aus dem Boden gestampften Hochsicherheitstrakts fest: „Unsere Gefängnisse liegen in schönen Gegenden.“ Wie „Stammheim“ liegt auch das Gefängnis „Gotteszell“ im Schwäbischen, eingebettet in eine schöne Landschaft, ausgestattet freilich it einer viel weiter zurückreichenden Historie. Die teils noch aus dem Mittelalter stammenden ehemaligen Klostergemäuer werden seit dem 18. Jahrhundert als Gefängnis genutzt. In der Gründerzeit erfolgte ein umfangreicher Um- und Ausbau im Klinkerstil, seither dient der Komplex als „Zuchthaus“. In den 70er-Jahren folgte die bis heute prägende Erweiterung aus Stahl, Glas und Beton. Hier sitzen ausschließlich Frauen ein, verurteilt wegen Drogendealerei, Brandstiftung, Totschlag, Mord und anderer Delikte. Marion, 35 Jahre alt, hat ihren Arbeitgeber erschlagen, der sie unter Ausnutzung seiner Machtposition über Monate hinweg sexuell belästigte und ihr eines Abends auf dem Heimweg auflauerte: neun Jahre. Die 30-jährige Sylvana, HIV-infizierte, ehemalige Prostituierte, wurde weggeschlossen wegen Heroinhandel. Die 32-jährige Nicole sah keinen anderen Ausweg aus ihrer verfahrenen wirtschaftlichen und psychologischen Situation, als ihr Haus und das ihrer Peiniger in Brand zu stecken und dabei den Tod mehrerer Menschen billigend in Kauf zu nehmen. Helga Reidemeister lässt das Objektiv ihrer Kamerafrau Sophie Maintigneux dicht zu den Gesichtern der Delinquentinnen aufschließen, fokussiert gnadenlos die darin eingegrabenen Spuren der Zeit, die Folgen des Entzugs von Licht, Kommunikation und Bewegungsfreiheit. Frappierender Weise wird in diesen physiognomischen Landschaften aber auch eine überraschende Schönheit sichtbar, die sich, nur scheinbar paradox, aus der Unsicherheit der Regisseurin gegenüber ihren Gesprächspartnerinnen ergibt. Bereits nach wenigen Minuten ist spürbar, dass mit dem Film ein unsicherer Grund betreten wird: Die Filmemacherin begibt sich auf eine Expedition mit ungewissem Ausgang und lädt den Zuschauer zur Teilnahme ein. „Gotteszell“ ist deshalb alles andere als eine Bebilderung vorher festgelegter Thesen. Weder werden die Täterinnen zu Opfern gesellschaftlicher Umstände stilisiert noch wird der Versuch einer psychologischen Deutung ihrer Handlungsmotive unternommen. Reidemeisters Herangehen ist phänomenologisch: vorgefundene Extremsituationen erfahren ihre Fixierung, Versuche empirischer Einordnung unterbleiben jedoch weitgehend. Zuschlagende Türen, rasselnde Schlüsselbünde, verschachtelte Treppenaufgänge, Essensausgabe, Briefzensur, Arbeit, Gottesdienst, Langeweile - auch „Gotteszell“ wartet mit den zu erwartenden Bildern des Gefängnisalltags auf. Das Leben unter behördlichem Verschluss bewegt sich notgedrungen in engen Kreisen und löst entsprechende Klischees ein. Durch die Unterzeile „Ein Frauengefängnis“ assoziiert man automatisch auch das Subgenre des Frauengefängnisfilms, eine ureigene Exploitation-Domäne, die in ihrer Mischung aus sexueller Spekulation und pseudodokumentarischem Gestus vorrangig männliche Projektionen bedient. Helga Reidemeister unterläuft solche Konnotationen auf fast beiläufige Weise: Obwohl auch bei ihr die genreimmanenten Ingredienzen vorkommen, kehrt sich ihre Funktion doch umgehend um. Sie stellen mehr in Frage, als dass sie bestätigen würden. Zu diesem Effekt trägt auch ganz wesentlich die Einbeziehung des Wachpersonals in die Diskussion um Gut und Böse, um Schuld und Sühne bei. Selbstverständlich und völlig vorurteilsfrei werden die „Schließerinnen“ in den filmischen Diskurs mit einbezogen. Eine Beamtin räumt freimütig ein: „Ich mag nicht die Tat, aber ich kann den Täter mögen.“ Hier lösen sich die Ränder zementierter Meinungen auf. Vermutlich wäre ein Film wie „Gotteszell“ vor wenigen Jahren noch unmöglich gewesen. Helga Reidemeisters Verdienst besteht darin, einen höchst politischen Film in scheinbar entpolitisierter Zeit gemacht zu haben. Zwischen „Gotteszell“ und „Stammheim“ liegen nur wenige Kilometer.
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