- | Indien 2000 | 99 Minuten

Regie: Buddhadeb Dasgupta

Die Freundschaft zweier Männer im ländlichen Bengalen verändert sich durch die Anwesenheit einer schönen Frau. Ihr tägliches Ringkampf-Training wird zunehmend härter und verbissener. Ihre wachsende Rivalität verstellt auch die Sicht auf ihre Umwelt, in der fundamentalistische Tendenzen um sich greifen. Meditativ-poetisches Drama, das zwischen Metapher und Parabel changiert und mit einfachen stilistischen Mitteln eine doppelbödige Atmosphäre erzeugt, die das konkrete Geschehen transzendiert, ohne dass dadurch das engagierte Plädoyer für mehr Toleranz geschmälert würde. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
UTTARA
Produktionsland
Indien
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Buddhadeb Dasgupta Prod.
Regie
Buddhadeb Dasgupta
Buch
Buddhadeb Dasgupta
Kamera
Asim Bose
Musik
Biswadeb Dasgupta
Schnitt
Raviranjan Maitra
Darsteller
Jaya Seal (Uttara) · Tapas Pal (Nemai) · Shankar Chakraborty (Balaram) · R.I. Asad (Priester) · Tapas Adhikari (Bahnwärter)
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
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Diskussion
Vogelgezwitscher, in das sich eine kraftvoll-harmonische folkloristische Tonfolge mischt, zunächst für Flöte und Glockenspiel. Später kommen andere Instrumente hinzu. Dazu nähert sich die Kamera in einer langsamen Fahrt einem Waldstück, während im Vordergrund Blätter zu Boden gleiten. Die zeitenthobene Atmosphäre dieses quasi utopischen locus amoenus wird bereits in der folgenden Sequenz destruiert: Ein weißer Jeep mit drei Männern kommt geräuschvoll ins Bild, die Männer pfeifen einer schönen Kuhhirtin hinterher, eine leere Schnapsflasche wird aus dem Auto geworfen und zerbirst am Straßenrand. Geheimnisvoll von einer elektronischen Klangwolke untermalt dann die folgende, noch geheimnisvollere Sequenz: Eine Gruppe kleinwüchsiger Menschen in Alltagskleidung steigt einen Berg herab und begegnet den Jeepfahrern, die gerade Messerwurfübungen veranstalten. Solch sorgfältig gestaltete Exposition vergisst man nicht so schnell. Formal interessant ist die Spannung, die in der Mise-en-scène zwischen Bildvordergrund und -hintergrund etabliert wird, inhaltlich aufschlussreich ist die Idee, die Menschen in der Totalen am Horizont ins Bild kommen zu lassen; dort, wo Himmel und Erde einander zu berühren scheinen, scheint es eine Naht zu geben, durch die Menschen in den Film finden. Bezeichnend ist die Einstellung, in der die Protagonisten, die Freunde Balaram und Nemai etabliert werden. In einer einfach strukturierten Landschaftstotalen aus blauem Himmel und sandfarbener Wüste fliegt ein dunkles Kleidungsstück in die Luft und kündigt das Erscheinen der Figuren an, die hinter einer Düne auftauchen, um im Bildvordergrund einen archaisch anmutenden, jedoch unmissverständlich freundschaftlichen Ringkampf abzuhalten. Auch hier wird die archaische Qualität des Bildes unmittelbar an die Gegenwart zurückgebunden, wenn das Signal einer Lokomotive die beiden Ringer an ihren Arbeitsplatz zurückruft – beide betreuen die örtliche Bahnstation, an der allerdings die Züge für gewöhnlich nicht halten. Ganz allmählich fügen sich Sequenzen und Protagonisten zu einer Handlung, die stets an der wenig trennscharfen Grenze zwischen Metapher und Parabel verbleibt. Einmal erzählt einer der Bahnwärter von einer noch größeren Einsamkeit, die ihn einst zwang, mit den Gleisen zu sprechen, die ihm aber auch nur von ihrer Einsamkeit berichteten; in all den Jahren konnten sie einander nie berühren. Von einem anderen Ort träumen auch vier Bettler, die wiederholt auftreten: Hinter Kalkutta liege das große Meer, dahinter Amerika, das Land der Hoffnung. Für andere liegt bereits Delhi auf einem „fernen Planeten“. Hier, wo der Film spielt, staunt man über die Erfindung des Telefons, brauchen Briefe etwas länger, und man vergisst schon mal die Hälfte des Alphabets; hier halten die Menschen noch ihr Ohr an den Briefkasten, um den Stimmen der Briefe zuzuhören. In diese Atmosphäre eines magischen Realismus mischen sich allmählich Misstöne. Eines Tages bringt Balaram von einem Besuch in seiner Heimat eine Frau mit: die schöne Uttara. Deren Anwesenheit verändert die Freundschaft zwischen Balaram und Nemai; ihre Ringkämpfe verlieren ihr spielerisches Moment, wobei die entstehende Eifersucht zunächst nicht frei ist von komischen Zügen. Bedrohlicher ist da schon der Satz, mit dem der christliche Priester, der den stummen Hindu-Waisenknaben Mathew aufzieht, konfrontiert wird: „Niemand darf mehr Christ werden!“ Dieser fundamentalistische Tonfall wird mit der bedrohlichen Präsenz der Jeep-Fahrer verknüpft, die immer wieder aus dem Nichts auftauchen und schließlich den Priester, den uniformierten Zwerg und Uttara umbringen werden. Als das geschieht, sind Balaram und Nemai, die vielleicht eingreifen könnten, geradezu autistisch in ihre egozentrischen Händel verstrickt. So bestätigt sich, was der Zwerg Uttara erzählte: „Du hast genug große Menschen gesehen. Haben sie die Welt verändern können? Alles, was sie tun, ist kämpfen.“ Es bestätigt sich aber auch, was Uttara von ihrem Onkel erzählt bekam: „Träumen verkürzt das Leben.“ Buddhadeb Dasgupta (geb. 1944) arbeitet als Schriftsteller und Dokumentarist für Film und Fernsehen abseits der kommerziellen Strukturen „Bollywoods“. Reduzierte man seinen Film „Uttara“ inhaltlich auf ein engagiertes Plädoyer für mehr Toleranz – was er auch ist –, würde man seine eindringliche ästhetische Dimension übersehen, Mit präzisen und vergleichsweise einfachen Mitteln etabliert er eine doppelbödige, „zauberhafte“ Atmosphäre, in der für einige zusätzliche Beobachterfiguren und auch noch für einen musikalischen, kommentierenden Chor in der Tradition der griechischen Tragödie Platz ist, der sogar handfest in die Geschichte eingreifen darf. Die Mauer zwischen der Realität und dem „parallelen Leben“ ist durchlässig: Als die vier Bettler noch vom Erreichen des großen Meeres träumen, durchwaten die Zwerge bereits den Fluss, um am anderen Ufer um ihren ermordeten Anführer zu trauern. Dem Skandalon der „politischen“ Dimension von „Uttara“ nimmt die magische Dimension nichts, vielmehr wird seine Wirkung durch die Poesie unerträglich, was formal durch die Wiederkehr der Anfangseinstellung am Schluss noch pointiert wird.
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