- | Italien 2000 | 112 Minuten

Regie: Marco Tullio Giordana

Das Leben und Sterben des Giuseppe Impastato, der in den 1960er-Jahren seine Stimme gegen die Mafia erhob und angesichts der vielfältigen Unterdrückungsmechanismen der "ehrenwerten Gesellschaft" nicht müde wurde, mit seinem "Piraten"-Radiosender die Vergehen lokaler und überregionaler Paten anzuprangern. Der beklemmende Polit-Thriller zeichnet mit inszenatorischer Schlichtheit das Bild eines enthusiastischen Menschen, der sich durch seinen festen Glauben an die Gerechtigkeit um Kopf und Kragen redete. Ein engagierter Film mit einem energiegeladenen Hauptdarsteller, der sowohl die Haltung des Protagonisten als auch das Lebensgefühl der damaligen Zeit mit dokumentarischer Genauigkeit spiegelt. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
I CENTO PASSI
Produktionsland
Italien
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
RAI/Tele +/Titti Film
Regie
Marco Tullio Giordana
Buch
Claudio Fava · Marco Tullio Giordana · Monica Zapelli
Kamera
Roberto Forza
Schnitt
Roberto Missiroli
Darsteller
Luigi Lo Cascio (Peppino Impastato) · Luigi Maria Burruano (Luigi Impastato) · Lucia Sardo (Felicia Impastato) · Paolo Briguglia (Giovanni Impastato) · Tony Sperandeo (Gaetano Badalamenti)
Länge
112 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion
Es war einmal: der italienische Politthriller. In den 1960er- und 1970er-Jahren konnten Regisseure wie Francesco Rosi oder Damiano Damiani in der Heimat des kinematografischen „neo“- und „surrealismo“ kommerzielle Erfolge mit ihren schonungslosen Mafia- Abrechnungen feiern, obwohl Bella Italia nicht gerade das Mutterland dieses Genres ist. Ihre Filme waren hart, aber kunstvoll gemacht, lehrreich, aber unterhaltsam, getragen von meist hervorragenden Darstellerensembles und den synthetischen Soundtracks von Stammkomponist Ennio Morricone. Allerdings wusste man schnell, wer die Guten und wer die Bösen waren. Es waren Filme, die auch das apolitische Publkum wachrütteln sollten – frei nach dem Motto: „Ihr wisst, was täglich in Eurem Land für ein Unrecht geschieht. Seht nicht weg!“ Das war immerhin ein Anfang. Die poetisch-intellektuelle Qualität des großen Außenseiters Pier Paolo Pasolini besaßen diese Filme allerdings nicht. Doch dann fiel das italienische Kino für mehr als zwei Dekaden in eine Art politischen Dornröschenschlaf. Nun ist es wieder erwacht.

Anders als bei den von Damiani oder Rosi inszenierten Anti- Mafia-Filmen verzichtet Marco Tullio Giordanas Debütfilm „100 Schritte“ auf alle Effekthascherei: Mit Ausnahme des energiegeladenen Spiels von Hauptakteur Luigi Lo Cascio überzeugt die Produktion durch eine geradezu herzerfrischende Schlichtheit, die keinesfalls mit Nüchternheit zu verwechseln ist. Der Film erzählt im nahezu beiläufigen Ton die verbürgte Geschichte vom Leben und Sterben des Giuseppe „Peppino“ Impastato, der seine Stimme gegen den „Clan der Sizilianer“ erhob. Impastato war zwar ein Mann mit Idealen, der sich in seinen Radiosendungen und bei seinen öffentlichen Aktionen mit geradezu halsbrecherischem Enthusiasmus um Kopf und Kragen redete, indem er aussprach, was die anderen nur dachten; doch er war kein Held. Im Gegenteil: In gewisser Hinsicht galt er als geltungssüchtig, scherte sich lange Zeit zu wenig um die Sorgen und Belange der eigenen Familie und instrumentalisierte vor allem seinen jüngeren Bruder für seine Zwecke und Ziele. Ein Egozentriker, der das Leid der Welt auf sich bezog, aber kein Egoist. Gelegentlich überstrapazierte der angehende Literat die Nerven und auch die Gefühle seiner Mitstreiter, weil er sich und anderen keine Ruhepausen gönnte. Auch dies zeigt Giordana, der seinen Film als „Hommage“ an Impastato verstanden wissen will, ihn aber nicht auf ein Podest hebt. „I cento passi“ ist das differenzierte Porträt eines Mannes, der schon in seiner Kindheit gegen die festgezurrten Familienbande ankämpfte, um sich zunächst in einem Gewirr aus Korruption und Stillschweigen zu verrennen, bis er aufschreien muss, um wieder „saubere Luft“ zu atmen.

Vater und Onkel dienen loyal und angsterfüllt zugleich dem Mafiaboss Gaetano Badalamenti, dessen Haus nur 100 Schritte von ihrem entfernt ist. Der Filmtitel dient allerdings auch als Symbol dafür, dass es unzähliger kleiner Schritte, Erlebnisse und Erkenntnisse bedarf, bis sich in Peppino während der 1960er-Jahren der Abscheu gegenüber dem herrschenden Verbrechen manifestiert. Seine „Karriere“ als berufsmäßiger Widerständler erreicht ihren ersten Höhepunkt zeitgleich mit Protestaktionen gegen einen Flughafen, der die schon Bedürftigen noch ärmer, die schon Vermögenden noch reicher machen würde. Mit der Gründung eines „Piraten“-Radiosenders, in dem er, oftmals mit einer gehörigen Portion Hanswurstiadentum und Mutterwitz, die Mafia bloßstellt, wird er zum erklärten Feind der Mächtigen. Es kommt zum vorübergehenden Bruch mit seinem Vater, der allerdings bei einflussreichen Verwandten in den USA um Schutz für seinen aufmüpfigen Filius bittet. Doch die Tragödie ist nicht mehr aufzuhalten. Gerade als sich beide wieder annähern, wird der Vater bei einem nächtlichen Spaziergang von einem Auto überfahren. Ob es ein Unfall oder ein gezielter Mordanschlag war, bleibt offen. Nach dem Ableben des Familienoberhauptes hat Peppino, der nun sogar bei den Wahlen kandidieren will, keine Protektion mehr. In der eindringlichsten Szene des Films stattet Mafiaboss Badalementi den um ihren Vater trauernden Impastato-Söhnen persönlich einen Besuch ab, bei dem er seine ganze Macht andeutet. Wenig später ist Peppino tot. Der Zuschauer sieht aus einer gewissen Distanz, wie er von Badalamentis Helfershelfern an einer Zugschranke aus dem Auto gezogen, ermordet und dann auf die Bahngleise gelegt wird.

Zunächst von offizieller Stelle als Unfall deklariert, dann als Suizid, brauchte es fast 30 Verfahren und ein Vierteljahrhundert, bis verspätet Recht gesprochen wird. Im April 2002 verurteilte verurteilte man Badalamenti als Auftraggeber im Mordfall Peppino Impastato zu lebenslänglicher Haft. Es ist gewiss kein Trost, dass die Gerechtigkeit doch noch walten konnte. Aber das Wissen darum macht „100 Schritte“, dieses beklemmende Meisterwerk des politisch engagierten Films, ein wenig erträglicher. Historische Schwarzweiß-Filmaufnahmen von Peppino und seinen Gefährten sowie der Beerdigung samt Trauerzug verdeutlichen, dass hier eine Realität reflektiert wird, die aktueller denn je ist. Bei allem gebotenem Ernst besticht der Film durch viele ausgelassene Szenen, die Peppino und Co. auch als von der Beat-, Hippie- und Glamrock- Bewegungen beeinflusste Zeitgenossen zeigen. So tanzen sie vor und nach ihren politischen Pamphleten, die sie durch den Äther schicken, zur Teenie- Rebel-Hymne „Ballroom Blitz“ von den Sweet. Der versierte Kameramann Roberta Forza fängt diese Bilder eines losgelösten Lebensgefühls, in dem man mit überwachem Geist die Welt spielerisch verändern wollte, mit geradezu dokumentarischer Genauigkeit ein.

Kommentar verfassen

Kommentieren