Drama | Großbritannien/Frankreich/Deutschland 2000 | 91 Minuten

Regie: Stephen Frears

Das konfliktreiche Leben einer katholischen Familie in Liverpool während der Wirtschaftskrise der 30er-Jahre, dicht inszeniert, brillant gespielt und durch eine ästhetisch reizvolle Farbgebung geprägt. Konsequent aus dem kindlichen Blickwinkel des siebenjährigen Sohnes erzählt, beschreibt das Sozialdrama unsentimental und sensibel die Schrecken sozialer Not und einer übertrieben strengen religiösen Erziehung. In den präzise beschriebenen menschlichen Wirren spiegelt sich eindrucksvoll das Bild einer von Arbeitslosigkeit, Rassismus und religiösen Zwistigkeiten geprägten britischen Gesellschaft. (OCIC-Preis in Venedig 2000) - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
LIAM
Produktionsland
Großbritannien/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Diaphana/B.I.M./ARD/BBC/Degeto/Liam Films/Road Movies/WDR/arte
Regie
Stephen Frears
Buch
Jimmy McGovern
Kamera
Andrew Dunn
Musik
John Murphy
Schnitt
Kristina Hetherington
Darsteller
Anthony Borrows (Liam) · Ian Hart (Vater) · Claire Hackett (Mutter) · David Hart (Con) · Megan Burns (Teresa)
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Es braucht etwas Zeit, bis man sich in Stephen Frears’ Sozialdrama aus dem Liverpool der Wirtschaftskrise der 30er-Jahre orientiert hat. Irritierend wirken die Farben von Technicolor, in die die roten Backsteinhäuser des irisch-katholischen Stadtteils und die ordentlichen Wohnstuben der Arbeiterfamilien getaucht sind. Zuerst glaubt man sich in einen Douglas-Sirk-Film aus den 50er-Jahren versetzt, doch man gewöhnt sich schnell an die ästhetische Licht- und Farbgebung. Nachts changiert das Licht manchmal wie in viragierten Stummfilmen in monochromem Cyan oder Violett, und die Straße des Liverpooler Arbeiterviertels ist in ein fahles Blau gehüllt. „Liam“ basiert auf Joseph Keowns Roman „The Back Crack Boy“, nach dem Jimmy McGovern das Drehbuch geschrieben hat. Für Frears war McGovern die erste Wahl, denn er hält den Drehbuchautor für einen der „herausragendsten Chronisten der britischen Wirklichkeit, die er beschreibt wie sie wirklich ist“. Im Mittelpunkt steht die Alltagswelt des siebenjährigen Liam Sullivan, dessen Familie in dem von irischen Einwanderern geprägten Stadtteil lebt. Liams ältere Geschwister, der Bruder Con und die etwa zehn Jahre älterer Schwester Teresa tragen zum Einkommen der Familie bei. Die Seele der Familie ist indes die Mutter, die Mann und Kinder liebevoll umsorgt. Zeitweise erscheint das Familienleben wie eine Idylle aus der guten alten Zeit, was durch Licht und Farben verstärkt wird. Doch bevor sich die Idylle verfestigt, verdüstern soziale Spannungen die Filmbilder. Der Vater hat zunächst noch seinen Job auf einer der maroden Werften, doch das Drama nimmt seinen Lauf, als er seine Arbeit verliert und sich einer faschistischen Organisation anschließt. Die Verwicklung des Vaters in einen gewaltsamen Übergriff auf eine wohlhabende jüdische Familie führt schließlich zur familiären Katastrophe. Die Zeiten sind hart, und die Menschen streiten viel. Die Mutter streitet mit ihrer Schwester und dem Vater über Dinge, die Liam noch nicht versteht. Sein älterer Bruder streitet mit dem Vater, und der mit dem Priester sowie dem Vorarbeiter auf der Werft. Die Schrecken der Erziehung tun ein Übriges. Wer nicht hören will, muss fühlen, heißt es im Volksmund, und wenn der Schuldirektor Liams Handflächen mit dem Lederriemen traktiert oder wenn die Mutter seinen Nacken mit der harten Bürste bearbeitet, fürchtet man, der zarte, auf dünnen Beinchen stehende Körper könnte zerbrechen. Die Vertreter von Sitte und Anstand, die Lehrerin Mrs. Abernathy und der Gemeindepfarrer Ryan, tun alles Erdenkliche, um ihre Schützlinge über mögliche Höllenqualen zu unterrichten. In der katholischen Schule malträtiert das skurrile Duo die Kinder mit ihrer Gottesfurcht. Frears macht daraus eine Lektion über die Schrecken religiöser Unterweisung. „Wie kann man wissen, ob eine Sünde eine Sünde ist?“, fragt Liam Mrs. Abernathy, die den Pfarrer um eine Antwort bittet. Die Kamera neigt sich über den Knirps und die enge Schulbank, und gebieterisch wie von einer Kanzel heißt es: „Eine Sünde ist eine Sünde, wenn sie dein Gewissen plagt.“ Liams hellwache Kinderaugen blicken ernst und konzentriert unter dem mit Brillantine gescheiteltem Haar. „Vergib mir Vater, ich habe gesündigt und“, setzt er flüssig an und dann „sz, sz, sz, sz ....“, da sitzt er im Beichtstuhl fest. Liam stottert, doch nach einer Weile findet er eine Melodie, mit der er dem Priester vorsingt, was seine Seele bedrückt. Da wird aus der Beichte unversehens eine Aufklärungsstunde. Liam hat seine Mutter beim Baden nackt gesehen, und weil sie etwas anders aussieht als die Madonnen auf den gemalten Bildern, gibt es ein kleines Problem. Frears’ dramaturgisch dichter Film fegt elegant über die Klippen der sozialen Abgründe zwischen Juden, Katholiken und Protestanten, und die nachdrücklichen Bilder loten subtil die Ironie und den Aberwitz im irisch-katholischen Umfeld jener Jahre aus, wobei die kindliche Perspektive zu komisch-ironischen Momentaufnahmen führt. „Liam“ ist zweifelsfrei besser gelungen, weil unsentimentaler als etwa Alan Parkers Verfilmung des Bestsellers „Die Asche meiner Mutter“ (fd 34 130), die um eine ähnliche Thematik kreist. Mit Sätzen wie „Sünden treiben die Nägel tiefer in die Wunden des Herren“ und „Die Feuer der Hölle brennen 1000 Mal heißer als die Feuer der Erde“ werden die Erst- und Zweitklässler immens erschreckt. Einmal sieht man Liam beide Hände in eine Schüssel mit heißem Wasser tauchen. Das gottesfürchtige Gespann hatte den Schülern die ewigen Qualen in den Feuern der Hölle so wortreich ausgemalt, sodass sich Liam zu Hause einen Vorgeschmack zu verschaffen sucht.
Kommentar verfassen

Kommentieren