Dokumentarfilm | Schweiz 2000 | 88 Minuten

Regie: Kaspar Kasics

Dokumentarfilm über das Schicksal eines 1993 hingerichteten Mörders, der seinen Körper der Wissenschaft vermachte, die ihn in hauchdünne Scheiben schnitt und als digitalisiertes Ganzkörperpräparat ins Internet stellte. Der Film lässt die entsetzten Hinterbliebenen ebenso zu Wort kommen wie die Wissenschaftler, einen Staatsanwalt und einen Pfarrer, der zur "Organspende" riet. Der für die Opferseite Partei nehmende Film zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die immer weniger Skrupel an den Tag legt, wenn es darum geht, das Denkbare in die Tat umzusetzen und als wissenschaftlichen Fortschritt zu feiern.
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Filmdaten

Originaltitel
BLUE END
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
eXtra Film
Regie
Kaspar Kasics
Buch
Kaspar Kasics
Kamera
Pierre Mennel
Musik
Mich Gerber
Schnitt
Kaspar Kasics · Isabel Meier
Länge
88 Minuten
Kinostart
-
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb

Diskussion
Im Jahr 1993 wird der 39-jährige Gewohnheitsverbrecher Joseph Paul Jernigan, der zwölf Jahre zuvor wegen Mordes zum Tode verurteilt wurde, im Gefängnis von Huntsville, Texas, hingerichtet. Seinen Körper hatte er zuvor der medizinischen Wissenschaft zur Verfügung gestellt, unter anderem, weil ihm der Gefängnispfarrer suggeriert hatte, dass dies eine Möglichkeit sei, trotz der Schwere seines Verbrechens doch noch der Erlösung teilhaftig zu werden. Vielleicht hatte Jernigan geglaubt, dass sein Körper als Organbank „ausgeschlachtet“ werde, was sich als Irrtum erwies, weil die Organe eines mit Gift Exekutierten nicht mehr für Transplantationszwecke brauchbar sind; vielleicht hatte er aber auch angenommen, angehenden Medizinern in Anatomiekursen nützliche Dienste zu leisten. Höchstwahrscheinlich aber hat er sich nicht träumen lassen, dass das in Aussicht gestellte ewige Leben für ihn bzw. seinen Körper auch eine diesseitige Komponente beinhalten würde. Zehn Minuten nach seinem Tod wurde seine Leiche nämlich präpariert und in blauer Gelantine eingefroren. Dann machten sich zwei Wissenschaftler an die Arbeit, um seinen Körper in hauchdünne Scheiben zu schneiden, die Präparate zu digitalisieren und Joseph Paul Jernigan als „The Visible Man“ ins Internet einzustellen.

Aus diesen Fakten hat der Schweizer Filmemacher Kaspar Kasics einen dokumentarischen Horrortrip geschaffen, der mit seinem Bildmaterial zwar die Grenzen des Erträglichen nicht überschreitet, in ethischer Sicht jedoch merkwürdige Schlaglichter auf eine Gesellschaft wirft, die keinen Respekt mehr vor der Würde – und der Totenruhe – eines Menschen zu haben scheint. Mit suggestiver Musik unterlegte Kamerafahrten führen zunächst entlang des Gefängniskomplexes, später in die Weite der texanischen Landschaft, ins Blaue des Himmels, und strukturieren Interviews mit dem Bruder des Toten, seiner Ex-Frau und Stieftochter, die ihrem Entsetzen kaum Ausdruck verleihen können, der Pflichtverteidigerin, dem Staatsanwalt, besagtem Pfarrer und den beiden Forschern, die ohne Skrupel in ihrer Arbeit aufzugehen scheinen. So lassen sich die beiden Mediziner in aller (Pseudo-)Wissenschaftlichkeit darüber aus, wie schwer es ist, einen Menschen in Stücke zu scheiden und hauchdünne Präparate abzuhobeln und welche Probleme das Auftauen der gefroren Scheiben mit sich bringt, da Muskelgewebe und Knochen dabei unterschiedlich auf Wärme reagieren. Der Pfarrer versteigt sich zu der Behauptung, dass die „böse Tat“ Jernigans letztlich doch noch gute Früchte trage; der Staatsanwalt gibt sich keine Rechenschaft darüber, dass seine Forderung, Gewaltverbrecher wie Jernigan für alle Ewigkeit einzusperren, durch die Digitalisierung des Toten auf perfide Weise erfüllt worden ist.

„Blue End“ ist kein Film gegen die Todesstrafe, obwohl er die Schmerzen der Hinterbliebenen, denen keine Zeit zum Abschiednehmen blieb, und die Unverhältnismäßigkeit der Mittel thematisiert. Er zeigt vielmehr das Bild einer Gesellschaft, in der alles Mach- und Denkbare möglich geworden ist und zu deren Geisteshaltung eine gehörige Portion Zynismus gehört. So erfährt man, dass die Hinrichtung Jernigans für das Projekt auch deswegen ein Glücksfall war, weil er im idealen Alter, kerngesund und außerdem ideal gebaut war. Dabei findet der Film im Lauf der Zeit zu einem überaus virtuosen Montage-Rhythmus, der die getrennt aufgenommen Interviews aller Beteiligten zu scheinbaren Dialogen mit Rede und Gegenrede verbindet, wobei er das Grauen des Nicht-Trauern-Könnens der Unfähigkeit, trauern zu wollen, gegenüber stellt. Ein erschreckender Film, der sich zum Ende hin mittels Zeitrafferaufnahmen selbst auf eine Reise durch den Körper des Toten begibt, so, als wolle er Trost oder die Seele des Hingerichteten suchen. Dabei stößt er immer wieder nur auf zwei Wissenschaftler, die durchaus als Verkörperung des „mad scientists“ klassischer Horrorfilme anzusehen sind: Dr. Ackerman, ein Pragmatiker, der sichtlich stolz auf seine „Pioniertat“ ist, und Dr. Spitzer, ein ebenso vergeistigter wie linkischer Forscher, der durch die labyrinthischen Gänge seines Instituts führt, in das man sich aus freien Stücken nie verirren würde. Ein Film, der Fragen nach der Ethik der Forschung aufwirft, wobei sein Regisseur keinen Hehl aus seiner Parteinahme für die Hinterbliebenen macht, obwohl er die Vertreter des Staates und der Kirche weder verteufelt noch aufs argumentative Glatteis führt. Das übernehmen die in ihren Positionen bis zur Selbstgerechtigkeit gefestigten Interviewten ganz von selbst.

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