Das Himmler-Projekt

Dokumentarfilm | Deutschland 2000 | 182 Minuten

Regie: Romuald Karmakar

Experimenteller Dokumentarfilm, in dem der Schauspieler Manfred Zapatka eine geheime Rede Heinrich Himmlers vorträgt, die er am 4. Oktober 1943 vor führenden SS-Generälen im Schloss Posen hielt. Durch den radikalen filmischen Minimalismus, der auf jede Form von Inszenierung verzichtet, wird ein beklemmender Blick ins Zentrum der NS-Ideologie möglich. Selten ist der kalte Kern eines menschenverachtenden Systems so unspektakulär und zugleich so präzise seziert worden. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Pantera Film
Regie
Romuald Karmakar
Buch
Romuald Karmakar · Stefan Eberlein
Kamera
Bernd Neubauer · Werner Penzel · Florian Süßmayer
Schnitt
Nicholas Goodwin
Darsteller
Manfred Zapatka
Länge
182 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Endlich wird Karmakars experimenteller Dokumentarfilm, der wichtigste deutsche Film des letzten Jahres, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich (wenn auch zu nachtschlafender Zeit). Am Rande der „Berlinale“ 2000 uraufgeführt, enthüllt der skandalöse Umgang mit diesem sperrigen Stück mutiger Zeitgenossenschaft die ganze Ambivalenz des deutschen Filmförderungs- und Verleihwesens, das angesichts einer wirklichen Herausforderung in bigotte Kleingeisterei verfiel. Der Grund: Karmakars Zumutung der nackten, ungeschminkten Wahrheit, wie sie Heinrich Himmlers „Posener Rede“ über das Dritte Reich enthüllt. Am 4. Oktober 1943 fand im Goldenen Saal des Schlosses von Posen (heute Poznán) eine „SS-Gruppenführertagung“ statt, auf der Himmler vor 92 SS-Generälen dreieinhalb Stunden lang seine Gedanken über den Stand der Dinge darlegte. Die Rede wurde auf Wachsplatten aufgezeichnet und diente bei den Nürnberger Prozessen als wichtiges Dokument; im Anhang der Protokolle des Internationalen Militärtribunals ist sie seit 1947 öffentlich zugänglich und wird in historischen Werken oft zitiert. In der ihm eigenen, fast manischen Genauigkeit rekonstruierte Karmakar den Wortlaut und die Umstände der Rede bis in Feinheiten und listet im Nachspann die Namen und wichtigsten Lebensdaten aller Teilnehmer auf, die teilweise noch bis in die 70er-Jahre öffentliche Ämter bekleideten. Das Ungeheuerliche seiner filmischen Vermittlungsleistung ist, dass er die Verzerrungen des medialen „Tranfers“ auf ein Minimum reduziert: Statt den üblichen Klischees – Totenkopfuniformen, knarzende Stimmen, schneidig-dreiste Gesten – begegnet man der geistigen Essenz der rassistischen Barbarei, und das auch noch in ihrer intelligiblen Form, also nicht über die selbstinszenierten (Film-)Bilder der Diktatur oder Sekundärliteratur. Möglich wird dies durch einen radikalen Minimalismus: Der Schauspieler Manfred Zapatka trägt der Text der Rede in einem in neutrales Grau getauchten Studio vor, ruhig und verhalten – er „spielt“ Himmler nicht, er spricht ihn. Vier (Video-)Kameras (zwei seitlich, zwei in der Mittelachse) zeichneten die nüchterne Lesung auf, insgesamt verfügt der dreistündige Film lediglich über 50 Schnitte. Trotzdem kommt an kau einer Stelle Langeweile auf, wenn Himmler über Personalia, Besetzungen und Verwaltungsangelegenheiten spricht. Der Rest ist eine beklemmende Erfahrung, weil die meisten der NS-Vergangenheit wohl noch nie so nahe gekommen sein werden, wie es hier möglich ist: Statt von Betroffenheit überwältigt zu werden oder in abwehrender Distanz zu verharren, ist mit einem Mal der Blick ins Innerste des mörderischen Systems möglich. Himmler redet Klartext, womit nicht nur die bekannt-berüchtigten Zitate gemeint sind wie die, dass es ihn nicht interessiere, ob 10.000 russische Weiber beim Bau eines Panzergrabens an Entkräftung umfallen, solange der Panzergraben für Deutschland fertig werde, oder das Diktum, auch im Angesicht von 100, 500 oder 1000 Leichen „anständig“ geblieben zu sein. Primäres Ziel der Ansprache war es, die obersten SS-Führungsoffiziere für die bevorstehenden harten Winterkämpfe zu motivieren, weshalb sich Himmler anfangs intensiv mit den russischen Kriegserfolgen und der Frage auseinander setzt, warum die angeblich minderwertigen „Slawen“ so viel Widerstand leisten. Später dagegen gewinnen visionäre Perspektiven die Oberhand, in denen Himmler ein hymnisches Idealbild des SS-Ordens entwirft und dabei immer wieder auch die Grundkoordinaten der rassistischen NS-Ideologie offen legt. Es ist vor allem diese Mischung aus Intelligenz, Ethos und einigen wenigen ideologischen Prämissen, die nachhaltigst irritiert, weil sie Himmler weder als Bestie noch als Verbrecher charakterisiert, sondern als Vorstandsmitglied eines völkischen Großkonzerns mit hohen moralischen Standards. Im Licht der „Posener Rede“, wie sie Karmakar zugänglich macht, gewinnt manche gesellschaftliche Diskussion aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland an zusätzlicher Schärfe, da deutsche Sekundärtugenden wie Ehrlichkeit, Fleiß, Bescheidenheit und Disziplin durch den Nationalsozialismus jede unhinterfragte Selbstverständlichkeit eingebüßt haben. Es ist Karmakars Verdienst, durch seinen kompromisslosen Stil, Menschen vor der Kamera unzensiert und unkommentiert sprechen zu lassen, mehr zum Verständnis einer verbrecherischen Barbarei beigetragen zu haben als alle vergleichbaren (Fernseh-)Formate der letzten Jahre. Selten ist der kalte Kern eines menschenverachtenden Systems so unspektakulär und doch so präzise seziert worden wie in dieser zurückgenommenen Lesung, weshalb alle Argumente doppelt unverständlich sind, die eine öffentliche Auswertung des Films im Kino oder im Fernsehen für unzumutbar hielten. Ein wenig mehr Zutrauen in die Mündigkeit der deutschen Demokratie würde auch Kulturfunktionären gut stehen, wenn sie denn schon nicht an die Kraft der Wahrheit glauben.
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