Ich geh' nach Hause

- | Portugal/Frankreich 2001 | 90 Minuten

Regie: Manoel de Oliveira

Ein alternder Theaterstar, der sich nach dem Unfalltod seiner Familie aufopferungsvoll um den einzigen Überlebenden des Unglücks, seinen achtjährigen Enkel kümmert, muss angesichts mangelnder Bühnenrollen und eines kulturfreien Fernseh-Engagements erkennen, dass er am Ende seines Lebens und seiner Karriere angekommen ist. Eine ebenso subtile wie kluge Auseinandersetzung mit Theater und Kino, Alter und Jugend sowie Zivilisation und Barbarei, die die Würde ihres Protagonisten in den Mittelpunkt stellt, der sich angesichts des Verfalls ethisch-moralischer Werte zurück zieht. Das von Melancholie bestimmte Alterswerk lädt durch seine nostalgische Rückbesinnung zur Auseinandersetzung ein. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
VOU PARA CASA | JE RENTRE À LA MAISON
Produktionsland
Portugal/Frankreich
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Madragoa Filmes/Gémini/France 2 Cinéma/CNC/ICAM/Le Studio Canal +/RTP
Regie
Manoel de Oliveira
Buch
Manoel de Oliveira
Kamera
Sabine Lancelin
Schnitt
Valérie Loiseleux
Darsteller
Michel Piccoli (Gilbert Valence) · Antoine Chappey (George) · John Malkovich (John Crawford) · Catherine Deneuve (Marguerite) · Léonor Baldaque (Sylvia)
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
„Ich geh’ nach Hause“ ist Manoel de Oliveiras 21. langer Spielfilm, der zugänglichste seit dem 1997 entstandenen Film „Reise an den Anfang der Welt“. Mit minimalistischen Strichen und feiner, maliziöser Ironie präsentiert der Portugiese, der am 11. Dezember 93 Jahre alt wird, ein sympathisches und intelligentes Alterswerk im Stil von Kurosawas „Madadayo“ (fd 30 722). Lebenslust und Charme zeichnen sein Alter ego aus, einen Verteidiger künstlerischer Werte, bravourös gespielt von Michel Piccoli. Diesen Mikrokosmos des Lebens nimmt seine Haushälterin als „stumme“ Beobachterin wahr. Für die Produktion zeichnet wieder der umtriebige Paulo Branco verantwortlich, der seit 20 Jahren Oliveiras Oeuvre ermöglicht und auch das nächste Projekt „Familienjuwel“ produziert. Der Pariser Theaterschauspieler Gilbert Valence kann auf eine lange Karriere zurückblicken. Gerade fällt der Vorhang zu Eugène Ionescos „Der König stirbt“, als ihm sein Agent und alter Freund George die schreckliche Nachricht überbringt: seine Frau, seine Tochter und deren Mann sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Fortan widmet sich der Mime dem letzten Spross der Familie, dem achtjährigen Enkelsohn Serge, und teilt mit ihm seine Zeit und Liebe zur Bühne. Doch dem wählerischen Künstler stehen nicht jeden Tag Herausforderungen wie die Rolle des Prospero in Shakespeares „Der Sturm“ in Haus: Engagements lassen auf sich warten, und die Liebesgunst seiner jüngeren Kollegin Sylvia verschmäht er rundweg. Eines Tages bietet man ihm die lukrative Hauptrolle in einem Fernsehfilm an. Als Gilbert jedoch von den Modethemen Drogen, Sex und Gewalt hört, beharrt er auf seinem Ethos des guten Geschmacks. Die Offerte eines amerikanischen Filmregisseurs, als Ersatzmann für Buck Mulligan in der James-Joyce-Adaption „Ulysses“ einzuspringen, nimmt er dagegen freudig an. Doch im Studio versagen ihm die Nerven und das Gedächtnis. Nach mehreren Versuchen bricht er resigniert ab, weil er fühlt, dass die Welt und das Leben ihm entgleiten. Es ist Zeit, abzutreten. Drei thematische Gegensatzpaare dominieren Oliveiras Film: Kino und Theater, Alter und Jugend, Zivilisation und Barbarei. Der Geist der Unruhe, die Tragödie eines Theaterstars spiegeln sich im Medium Fernsehen, das er verächtlich ablehnt, und im Film, wo die uninspirierte Verfilmung von Joyces’ Jahrhundertroman zur reinen Farce mutiert. Hier verschlägt es dem Mimen förmlich die Sprache. Bevor er zur Witzfigur verkommt, rechnet er mit der Kunst ab und geht nach Hause. Wie seinen iberischen Kollegen Buñuel reizt Oliveira das surreale, burleske Spiel, das in der köstlichen Café-Szene mit dem Ritual der Sitzplatzwahl der Leser von Libération, Le Figaro und Le Monde durchbricht. Gilbert wirkt wie ein Eremit, der sich in den Elfenbeinturm, in die Einsamkeit zurück gezogen hat. Aber der Tod seiner einzigen Angehörigen konfrontiert ihn mit dem Abschied vom Leben. In seiner Altersweisheit nimmt er diese Herausforderung mit großer Würde an. Die Priorität seines Handelns und damit des Films geht plötzlich auf den Jungen über, der wie intuitiv das Gesetz der Vergänglichkeit zu verstehen scheint. Hier fokussiert sich die Welt in einer Szene, verdichtet sich in einem Augenblick. Dem bekennenden Katholiken Oliveira muss man auch die religiöse Konnotation abnehmen: Das Geheimnis des Lebens kann nur im Stande der Gnade erfahren werden. Der Film schildert diese Wandlung mit abgeklärter Einfachheit. Das dritte Leitmotiv handelt vom Moloch Paris, seinem verführerischen Kulturleben, von der Metropole des Müßiggangs. Aber die Licht- und Schattenseiten der Stadt werden kamera- und schnitttechnisch sehr ambivalent skizziert: Nächtliche Überfälle, Drogenprobleme, ethnische, religiöse und politische Konflikte bedrohen das Idyll der Zivilisation. Gilbert, der keine Differenz zwischen sich als Künstler und Mensch zulässt, bedauert den Verfall ethisch-moralischer Grundsätze, das Verschwinden von Humanismus, Scham und Würde. Die Perversion des allgegenwärtigen Profitdenkens und eines entfesselten Konsums hat die Grenze zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit nachhaltig ausgehöhlt. Die nostalgische Erinnerung an die Vergangenheit, eine Stadt, die in seinen Augen förmlich zu versinken droht, bestimmt die Melancholie am Ende seines Lebens. Es dominiert das Gefühl vom Stillstand der Zeit, obwohl diese gar nicht wirklich zu vergehen scheint. Eine (zu) abgeklärte, konservative Sicht des großen alten Meisters?
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