Atanarjuat - Die Legende vom schnellen Läufer

Drama | Kanada 2001 | 172 Minuten

Regie: Zacharias Kunuk

Ein Schamane stört in der kanadischen Arktis das harmonische Gleichgewicht unter den Eskimos. Der Kampf um die Führung des Nomadenstammes und eine Generation später um eine schöne Frau entzweit sogar zwei Brüder. Der eine, der schnelle Läufer, überlebt und versucht, den Teufelskreis der Rache zu durchbrechen. Bilderstark und episch wird eine universelle Inuit-Legende erzählt, die stellenweise als behutsam nachgestellte Dokumentation der Sitten und Gebräuche einer vergangenen Zeit fasziniert. Die wortkarge, spannende Inszenierung und die Tatsache, dass es der erste von Inuit selbst erzählte und produzierte Spielfilm ist, machen ihn zu einem Klassiker. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ATANARJUAT- THE FAST RUNNER
Produktionsland
Kanada
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Aboriginal Peoples Television Network/CTF/Canadian Film and Video Prod./Canadian Government/CTV/Channel 24 Igloolik/Igloolik Isuma/NFB/Telefilms Equity/Vision
Regie
Zacharias Kunuk
Buch
Paul Apak Angilirq · Norman Cohn · Zacharias Kunuk · Hervé Paniaq · Pauloosie Qualitalik
Kamera
Norman Cohn
Musik
Chris Crilly
Schnitt
Norman Cohn · Zacharias Kunuk · Marie-Christine Sarda
Darsteller
Natar Ungalaaq (Atanarjuat) · Sylvia Ivalu (Atuat) · Peter-Henry Arnatsiaq (Oki) · Lucy Tulugarjuk (Puja) · Madeline Ivalu (Panikpak)
Länge
172 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
Sunfilm (1:1.85/16:9/Dolby Digital 5.1)
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Diskussion
Bisher war unser Eskimo-Bild von zwei Filmen geprägt. Robert Flahertys Stummfilm-Dokumentation „Nanuk, der Eskimo“ (fd 2 051) aus dem Jahr 1921 machte mit dem einsamen, einfachen und kargen Leben der Inuit bekannt: Sie jagen, fischen im Eis, handeln mit den Fellen der Tiere, die sie erlegen, sind gut Freund mit ihren Schlittenhunden und legen ein großes familiäres Zusammengehörigkeitsgefühl an den Tag. Flahertys meisterhafte Bilder vom schweren Leben im ewigen Eis, eine Vorstellung irgendwo zwischen real und ideal, begründeten den Zauber dieser fremden Welt. Knapp 40 Jahren später wagte sich wieder ein Amerikaner daran, diese geheimnisvolle Welt näher zu bringen und sie zu entmystifizieren. Nicholas Rays pseudodokumentarischer Spielfilm „Im Land der langen Schatten“ (fd 9 577) – 1960; mit Anthony Quinn als Eskimo – erzählte zwar auch von der Jagd und dem entbehrungsreichen Leben im Eis und dem täglichen Kampf ums Überleben, ebenso aber von der Wahl der richtigen Frau fürs Leben, von einem schwer nachvollziehbaren Ehrenkodex und dem Versuch der Zivilisierung durch einen weißen Missionar. Weil er den Sex mit der Frau des gastfreundlichen Inuit ablehnt, der ihn in seinem Iglu aufnimmt, tötet der ihn, denn eine solche Beleidigung seiner Person und seiner Familie kann er nicht hinnehmen. Wieder 40 Jahren später kommt mit „Atanarjuat“ ein Film, der Mythisches mit Dokumentarischem verbindet, vor allem aber: Es ist der erste Spielfilm eines Insiders, eines Inuit (vgl. fd 15/02, S. 44). Der Kanadier Zacharias Kunuk, 1957 geboren als Sohn einer Nomadenfamilie in der arktischen Tundra, kannte noch das ursprüngliche Leben der Inuit. Als seine Eltern sich in der neuen Siedlung Iglooik auf Baffin Island niederließen, war er neun Jahre alt. Erst ein bekannter Bildhauer, begann er 1981, mit der Videokamera das Leben der Inuit in seinem Dorf zu filmen. Seine beeindruckenden Dokumentarvideos, die seit Ende der 80er-Jahre entstanden, wurden zwar weltweit bei Festivals und Museen gezeigt, aber erst mit „Atanarjuat“ wurde er schlagartig bekannt – sein meisterhafter Dreistundenfilm ist jetzt schon ein Klassiker. Der (1998 verstorbene) Drehbuchautor Paul Apak Angilirq fasste verschiedene Versionen einer nur durch mündliche Überlieferung erhaltenen, fast tausend Jahre alten Inuit-Legende zusammen, eine jener Geschichten von Liebe, Leid und Schicksal, wie sie Hollywood nicht besser hätte erfinden können. Als der zwielichtige Schamane Tungajuag ins Inuitdorf kommt (Schamanen sind sonst eher die guten geistigen Führer der Inuit), greift er in einem Machtkampf ein, tötet den Stammesführer und setzt dessen machtgierigen Sohn als Nachfolger ein, der den Schamanen und seine Söhne Atanarjuat und Amargjuag verbannt. Nach 20 Jahren kommt es zum nächsten Konflikt, weil Atanarjuat, der schnelle Läufer, sich in die hübsche Atuat verliebt, die schon Oki versprochen ist, dem Sohn des Stammesführers. Es kommt zum Zweikampf, den Atanarjuat gewinnt. Er heiratet Atuat. Aber einmal lässt er sich von Okis Schwester Puja verführen und macht sie zu seiner zweiten Frau. Die stolze Puja verführt auch Atanarjuats Bruder, was ihr Atanarjuat zwar verzeiht, aber der immer noch rachsüchtige Oki will die Brüder trotzdem töten. Atanarjuat kann als Einziger entkommen. Während alle glauben, dass Atanarjuat im Eis gestorben ist, wird er im Dorf eines anderen Schamanen aufgenommen, der ihm hilft, alles wieder ins Lot zu bringen. Atanarjuat kehrt zurück und erreicht, dass Oki – er wurde Stammesführer, nachdem er seinen Vater umgebracht hatte – und Puja verbannt werden. In der ersten halben Stunde muss man sich einlassen auf die Farbe Weiß in all ihren Schattierungen – nicht nur die Eislandschaft ist weiß, auch die dicken reich verzierten Lederkleider der Inuit, die Wolken am Himmel –, ebenso auf die ruhige Art des Erzählens und des ungewohnten Weltbildes, Danach gewinnt der Film eine Eigendynamik und erzählerische Qualität, der man sich kaum mehr entziehen kann. Dabei gestaltet Kunuk seinen Film ganz einfach, vorwiegend in Halbtotalen und Großaufnahmen, mit ruhiger, fast bewegungsloser Kamera und langen Einstellungen, gelegentlich aber auch in parallel laufenden Aktionen, unaufdringlichen, langsamen Zooms und behutsamen Schwenks. Ganz nebenbei erzählt er mehr vom Leben und der Kultur der Inuits als jeder Dokumentarfilm. Man braucht sich nur die verschiedenen Gesichtstätowierungen der Frauen anzusehen, die Blicke und Bewegungen der Inuits, wenn sie als Gruppe auftreten und miteinander kommunizieren, ihre Gesänge, ihre Kajakfahrten und die intimen, zärtlichen Momente, die nie peinlich, sondern poetisch wirken. Dass es Kunuk schafft, die Schönheit und Weite der Landschaft ohne Bruch mit den dokumentarischen Szenen aus dem Alltag und der im Grunde sehr brutalen universellen Geschichte über Liebe, Hass, Macht und Rache zusammenzubringen, ist seine größte Leistung. Durch die Langsamkeit der Bilder und der Bewegungen fällt es nicht auf, dass vorwiegend Laiendarsteller agieren, und Dank des vorherrschenden Weiß stört es auch wenig, dass komplett auf Digibeta bedreht wurde und nicht alles so scharf und so farbbrillant ist, wie man es erwartet. Auch der sparsame Musikeinsatz und die ganz eigene Musikalität der Inuit-Sprache unterstützen den quasi als zeitloses mythisches Epos angelegten Spielfilm. Was man nicht sieht, erklärte Kunuk in Cannes: Dass die Missionare Schuld waren, dass die Inuits viele ihrer Legenden und damit den Bezug zu ihren Wurzeln und ihrer Geschichte verloren, weil sie Schamanen pauschal als Teufel verurteilten, schriftliche Aufzeichnungen über sie verboten und nicht ihre guten Seiten, etwa als Fährtenleser und Tröster für Kranke und Sterbende, sehen wollten. Auch deshalb habe er, der nie mit Schamanen in Berührung kam, diesen Film gedreht.
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