Jochen - ein Golzower aus Philadelphia

Dokumentarfilm | Deutschland 2001 | 125 Minuten

Regie: Barbara Junge

Der 17. Film der seit 1961 gedrehten Langzeitdokumentation über die "Kinder von Golzow" und das siebte Einzelporträt der Reihe. Im Zentrum steht Jochen Teich, ein drei Zentner schwerer Melker, der seinen mit der Kamera festgehaltenen Lebenslauf von heute aus kommentiert. Seine direkten, mitunter sarkastischen und grobschlächtigen Äußerungen betreffen über private Umstände hinaus immer auch Zeitgeschichtliches. Der Film liefert genaue Einblicke in die Biografien "einfacher" Leute, auch wenn der Autorenkommentar bisweilen zu breit gerät. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
à jour/ORB/NDR
Regie
Barbara Junge · Winfried Junge
Buch
Barbara Junge · Winfried Junge
Kamera
Hans-Eberhard Leupold · Harald Klix
Musik
Gerhard Rosenfeld
Schnitt
Barbara Junge
Länge
125 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Zum siebten Mal präsentieren Barbara und Winfried Junge ein Einzelporträt über eines der „Kinder von Golzow“. Diesmal ist Jochen an der Reihe, Hans-Joachim Teich, jener drei Zentner schwere Melker, der nicht in Golzow, sondern in Philadelphia geboren wurde. Ob es sich bei diesem Philadelphia etwa um die US-Großstadt handelt oder um das Oderbruch-Dorf gleichen Namens, erzählt Jochen bereits in der Exposition, bei einem Gartenfest mit einstigen Schulkameraden. Hier fühlt sich der Held vor der Kamera sichtlich wohl. Das war nicht immer so: Der Film zeigt ihn auch an Orten und zu Gelegenheiten, bei denen er alles andere als Wert darauf legte, von der DEFA behelligt zu werden. Es sind Aufnahmen, die nicht zuletzt die Beharrlichkeit, ja Penetranz deutlich machen, mit der Winfried Junge seinen Protagonisten Jahrzehnte lang auf den Leib rückte – eine Penetranz, die manchen Beteiligten zeitweise genervt haben mag (Jochen: „So blöd wie Du frägt keener“), die in der Summe aber erst das international anerkannte „Langzeitprojekt Golzow“ möglich werden ließ. Jochen stand, mit Unterbrechungen, seit 1961 vor der Kamera. Für den allerersten, kurzen Golzow-Film „Wenn ich erst zur Schule geh...“ hatte ihn Junge zunächst als Hauptfigur auserkoren; der Einspruch des Kameramannes, das Kind habe „eine Mimik wie ein Eisbär“, ließ den unerfahrenen Regisseur davon Abstand nehmen. Später schien Jochens Mutter diese Entscheidung zu bestätigen; hinter ihrer Nähmaschine sitzend, meinte sie, ihr Sohn sei wohl in der Tat ein „kleener Trottel“ gewesen. Heute gehen alle schmunzelnd, auch selbstironisch mit solchen Einschätzungen um. Der dramaturgische Trick des Films besteht darin, dass die Regisseure dem Mittvierziger die alten Szenen auf Video vorführen und sie von ihm kommentieren lassen. Das ist vor allem dann reizvoll, wenn Jochen Bilder „erklärt“, die einst von der DEFA als „positive Propaganda“ genutzt werden sollten, aber schon damals einen Anflug von Realsatire nicht verbergen konnten: etwa das Leistungsmelken, bei dem Scheinwerfer den Kuhstall zur Bühne machten. Jochen lästert, jener Wettbewerb sei nichts anderes als „Kunst- und Figurenmelken“ gewesen. Junge fügt in seinem erneut etwas wortreichen Autorenkommentar an, Leistungsmelken habe in der DDR offiziell dazu dienen sollen, das Bewusstsein für verantwortungsvolles Arbeiten zu stärken, ebenso den „Bruderbund mit der Sowjetunion, den Sozialismus auf der Welt und gleich auch noch den Weltfrieden, wie es so oder so auf den Spruchbändern stand“. Der Film lässt ahnen, dass auch die Golzow-Bilder mitunter Gefahr liefen, zu Spruchbändern zu erstarren. Was mag Junge zum Beispiel bewogen haben, Jochen während dessen Wehrdienstes als Unteroffizier im „Traditionskabinett“ seines Regiments zu drehen? Dort, vor der Truppenfahne und mit einigen ihm unterstellten Soldaten, stoppelt sich der junge Mann ein paar auswendig gelernte Phrasen aus dem Gedächtnis. Heute bieten diese Aufnahmen Anlass, um über ihre Entstehungsgeschichte zu reflektieren; dass Jochen vor der Ankunft des Kamerateams nicht einmal wusste, wo sich das „Traditionskabinett“ befindet, und dass ihm von seinem Politoffizier Strafe angedroht wurde, wenn er sich dem Auftritt verweigere. Solche Episoden „entlarven“ nicht zuletzt auch die Bemühungen der DEFA, dem Staat möglichst dienstbar zu sein – und wie das von der Realität komplett unterlaufen werden konnte. Dagegen lädt der Film zum ernsthaften Nachdenken ein, wenn Jochen über konkrete Vorfälle beim nächtlichen Streifendienst an der deutsch-deutschen Grenze berichtet, beispielsweise über den Fluchtversuch zweier Minderjähriger. Dass er alles andere als gewillt ist, sich der gängigen Meinung zum Thema Schießbefehl anzupassen, zeigt Jochen mit seiner Äußerung, er halte es für schäbig, jetzt „kleine Grenzsoldaten“ anzuklagen, die letztlich doch „ihre Pflicht“ getan hätten. Überhaupt wird auch in diesem Golzow-Film – über das Leben eines Einzelnen hinaus – wieder viel Zeitgeschichte transportiert. Das beginnt damit, dass sich die Junges der Biografie nähern, indem sie gewissermaßen Schalen abtragen: Zuerst wird die Landschaft gezeigt, in die Jochen hinein geboren wurde, dann die Entwicklung des Ortes seit 1945; Fotos von damals, auf denen kriegszerstörte Häuser und kaputte Straßen zu sehen sind, stehen Bilder vom heutigen Golzow gegenüber. Später zeigen sie das Umfeld Jochens in seinem jetzigen Wohnort Bernau bei Berlin: eine verfallende Kaserne der Sowjetarmee, aber auch eine „aus Mangel an Kindern“ still gelegte Kindertagesstätte. Die allumfassende Erziehungsdiktatur der DDR erfährt ihre amüsante Spiegelung in einer Montage von Momenten, in denen sich Jochen als Abgeordneter der Bauernpartei („Ich war Grüner!“) bei einer Versammlung langweilt, mit entsprechenden Szenen aus seinem Schulalltag der ersten Klasse. Aus dem Off ertönt dazu eine Collage von Reden, in denen penetrant Nichtssagendes verkündet wird; Höhepunkt ist eine Wortmeldung, die mit dem bedeutungsschwangeren Satz endet: „Abschließend möchten wir bekannt geben, dass wir uns auf den kommenden Winter vorbereiten.“ Auch die Sequenzen nach 1990 bieten interessante soziale, soziologische und psychologische Einblicke; so wenn der von der DDR-Politik enttäuschte Jochen erklärt, auch die deutsche Einheit habe ihm „nüscht gebracht“. Er sei erschüttert gewesen, als er die Mitbürger gesehen habe, die sich „wie das Vieh“ um die 100 DM Begrüßungsgeld prügelten; und es sei durchaus zu erwarten, dass er mit seiner Familie nach Kanada auswandere. Dann vernimmt man aus dem Mund des recht grobschlächtig wirkenden Mannes: „Du kannst nicht in irgendwelchen Erinnerungen schwelgen. Die Realität holt dich jeden Tag neu ein.“ Tatsächlich kann für Jochen und seine Frau seit zwölf Jahren keine Rede mehr von sozialer Sicherheit sein; alles steht irgendwie auf der Kippe, die Arbeit sowieso, aber auch das Grundstück, das von Rückübertragungsansprüchen bedroht ist. „Wenn der Westler kommt, das erste Mal, hat der viel Freude an mir“, schwört Jochen sarkastisch. Am Ende gesteht ihm Junge einen langen, resoluten verbalen Abschied von der Kamera zu: „Absolut Schluss. Geht nüscht mehr“, wiederholt Jochen, keinerlei Widerspruch zulassend. Vermutlich erwartet er in seiner Biografie keine Bewegungen mehr, schon gar nicht „aufwärts“. Sicher will er sein Privatleben in der „neuen Zeit“ lieber vor öffentlicher Aufmerksamkeit geschützt sehen.
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