- | USA 2001 | 99 Minuten

Regie: Richard Linklater

Ein junger Mann begegnet auf der Suche nach Sinnfragen des Lebens Dutzenden von Personen, die ihm stets neue Erklärungsmodelle liefern. Immer mehr wird ihm dabei bewusst, dass er selbst die faktische Realität verlassen hat und sich in einem Zwischenreich zwischen Leben und Tod befindet. Aber ist dieser "Traum in einem Traum" nicht für alle Wirklichkeitserfahrungen kennzeichnend? Erst in der neuartigen Animationsform übermalter Videoaufnahmen vollendet sich dieser philosophische Jugendfilm mit vielfältigen Bezugssystemen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
WAKING LIFE
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Detour Film Prod./Independent Film Channel/Line Research/Thousand Words
Regie
Richard Linklater
Buch
Richard Linklater
Kamera
Richard Linklater · Tommy Pallotta
Musik
Glover Gill
Schnitt
Sandra Adair
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Mit kleinen Meisterwerken von in Form gebrachter Flüchtigkeit wurde Richard Linklater in der ersten Hälfte der 90er-Jahre berühmt. In seinem Film „Slacker“ trifft der jugendliche Protagonist mit dem Zuschauer auf eine Nebenfigur nach der nächsten, die sich wie in einem dramaturgischen Staffellauf die narrative Stafette weiterreichen. Erst in der Begegnung mit den unterschiedlichen Charakteren und ihren Geschichten kommt auch im Film so etwas wie ein Plot zustande. Zugleich traf der dargestellte Umgang mit einer großzügig verfügbaren Zeit auch das Lebensgefühl der damals als „Generation X“ bekannten Jugendkultur. Heute ist das Slackertum und sein Abhängen als Lebensprinzip fast in Vergessenheit geraten. Als sich Linklater im vergangenen Jahr auf dem Filmfestival von Venedig mit „Waking Life“ zurückmeldete, einer filmischen Reflexion über Leben und Tod als Bewusstseinszustand zwischen Träumen und Wachen, war das eine vielfache Wiedergeburt: die der frappierenden Idee von „Slacker“, einen Film in einzelnen Statements flüchtig ins Spiel gebrachter Figuren zu erzählen; die eines noch immer jungen Filmemachers ins Wachleben einer von chronischem Gedächtnisschwund geplagten Filmöffentlichkeit; und die einer Filmform innerhalb einer anderen: Ist „Waking Life“ doch vom ersten bis zur letzten Bild ein Animationsfilm, auch wenn ihm erkennbar eine Videoversion mit menschlichen Schauspielern vorausgegangen ist. Der Filmemacher Steven Soderbergh ist neben Julie Delpy und Ethan Hawke eines der leicht kenntlichen Modelle dieser Trickfiguren, und die kleine Anekdote über Louis Malle und Billy Wilder, die er darin erzählt, sagt einiges über den Film aus, den man zu diesem Zeitpunkt schon 90 Minuten lang gesehen hat: Da berichtet der Franzose dem Amerikaner von seinem mit zweieinhalb Millionen Dollar Budget bislang teuersten Filmprojekt, einer Geschichte von einem Traum in einem Traum. „Ein Traum in einem Traum“, wiederholt Wilder trocken. „Dann haben Sie gerade zweieinhalb Millionen Dollar verloren.“ Dennoch taucht der Name Billy Wilders, der mit „Boulevard der Dämmerung“ (fd 1149) einen Film aus der Sicht eines Toten erzählte, hier nicht von ungefähr auf. Wie jedes der hundertfünfzig geistesgeschichtlichen und popkulturellen Zitate, aus denen dieses Patchwork besteht, etwas zu sagen hat. Ein Traum in einem dutzendfachen Traum, das ist auch „Waking Life“. Und man muss diesen Film nur wenige Minuten lang sehen, um entsprechendes über den kommerziellen Wagemut seiner Produzenten bei Fox zu sagen. Welche Marktchancen hat wohl ein Trickfilm über die Suche nach dem Sinn des Lebens, erzählt in Monologen? Tatsächlich ist es der gewagteste abendfüllende Animationsfilm, seit Walt Disneys „Fantasia“ (fd 2178) aus dem Jahr 1940. Nur dass Linklater nicht wie Disney klassische Musik, sondern Philosophie visualisiert. Ein langer Spaziergang zwischen Tag, Traum und Tod lässt einen jungen Mann auf verschiedenste redselige Ratgeber treffen. In keinem Filmland der Welt wäre eine solche Studioproduktion denkbar. Der Stein kommt ins Rollen, als sich der junge Mann im Zentrum des Films auf der Straße nach einem Zettel bückt, der ihn zu spät ermahnt, nach links zu blicken – von wo auch gleich ein Auto gerast kommt, das ihn ins Krankenhaus befördert. Wieder erwacht, setzt sich die Welt zunächst vorsichtig aus Umrisslinien zusammen, um sich danach in einem steten Schwanken wie auf einem Boot zu befinden. Einem Autofahrer, der sein Gefährt aus einem Motorboot gefertigt hat, kommt bei einer Begegnung mit dem Protagonisten die Funktion eines mythologischen Schiffers über den Hades zu, der mit seiner einfachen Philosophie der Selbstverwirklichung allerdings kaum die Hauptfigur überzeugen kann. In zwei Stunden werden die vielfältigsten philosophischen und theologischen Konzepte durch Dutzende von Lippen gegeistert sein, bis schließlich Linklater selbst als Trick- und Vaterfigur dem jungen Mann, der längst berechtigte Zweifel an seiner eigenen Lebendigkeit hegt, in einer nicht minder verschachtelten Argumentation einen Rat gibt. Ist unser waches Leben nicht selbst nur eine Illusion? Ein Weg, sich in zweitausend Jahren Menschheitsgeschichte über die Abwesenheit Christi hinwegzutrösten? Jedes der Erklärungsmodelle steht gleichberechtigt nebeneinander. So ist es der künstlerischen Form überlasen, Aussagen über die Wirklichkeitsauffassung dieses Films zu treffen. Schon zu Beginn, also vor dem Unfall des Jungen, ist die Welt sichtlich aus den Fugen. Die bislang kaum bekannte Technik einer digitalen „Übermalung“ von Videobildern reflektiert die wacklige Ästhetik der aus den dänischen „Dogma“-Filmen bekannten digitalen Handkamera, die hier für das Leben selbst stehen soll. Zusehends verschieben sich die Vorder- und Hintergrundebenen gegeneinander, ohne den perspektivischen Gesamteindruck völlig aufzulösen. Aber es ist eine Welt in den Bildern, eine Metawelt, die der Protagonist hier durchlebt. Man wird Linklaters Wahl, erstmals einen Animationsfilm zu drehen, nicht erklären können, ohne auch das Wort selbst mit einzubeziehen: Ist Animation doch die Beseelung des Unbelebten, ein Schattenreich wie jenes, das der tragische Held zu ergründen versucht. Immer wieder nutzt Linklater den Trickfilm auch zu ironischen Konterkarierungen, wenn Metaphern aus den Dialogen für Momente im Bild sichtbar werden und sich die Monologisierenden aufzulösen beginnen. Einmal endet ein Paar von Diskutanten als lebende Wolkenfiguren – und genauso leicht muss man sich die Freiheit des Geistes vorstellen, die dieser wunderbare Film über fast zwei Stunden zelebriert.
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