Abendland (1999)

- | Deutschland 1999 | 146 Minuten

Regie: Fred Kelemen

Szenische Folgen aus einer apokalyptischen Welt, in der jede Auflehnung gegen das allumfassende Vorteilsdenken umgehend bestraft wird. Anton, der gestrauchelte Held des Films, lässt sich wider besseren Wissens zu einem völlig unpragmatischen Verhalten überreden und gerät dadurch noch tiefer in den babylonischen Sumpf. Zuletzt scheitert er zwar, doch sein Weg durch die Abgründe setzt kathartische Energien frei und hebt ihn auf eine höhere Bewusstseinsebene. Der dritte Langfilm von Fred Kelemen orientiert sich deutlich an seinen Vorbildern Bela Tarr und Andrej Tarkowskij, vermag aber im Gegensatz zu diesen nicht zu vollendeter Geschlossenheit seiner äußeren wie inneren Gestalt zu finden. Dennoch erweist sich der Regisseur/Kameramann einmal mehr als einer der ganz wenigen visionär denkenden Filmemacher Deutschlands.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Mediopolis Berlin/Filmes de Tejo Lisboa/WDR
Regie
Fred Kelemen
Buch
Fred Kelemen
Kamera
Fred Kelemen
Musik
Rainer Kirchmann
Schnitt
Fred Kelemen
Darsteller
Wolfgang Michael (Anton) · Verena Jasch (Leni) · Urs Remond (Paul) · Isa Hochgerner (Nina) · Adolfo Assor (Glockengießer)
Länge
146 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
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Diskussion
Anton geht es nicht gut. Die Demütigungen auf dem Sozialamt hält er nicht aus, er dreht durch, verspielt damit seine Chance auf materielle Unterstützung. Nachdem er den erneuten Tiefschlag mit Alkohol betäubt hat, rauben ihm jugendliche Gelegenheitsdiebe die letzten Groschen, verprügeln ihn. Heimgekehrt begegnet er seiner Freundin Leni mit einer beziehungstötenden Mischung aus schlechtem Gewissen und Eifersucht. Sie, die noch Arbeit hat, erscheint ihm als stiller Vorwurf des eigenen Versagens. Er hält es in der gemeinsamen Wohnung nicht aus, ihn zieht es hinaus in die Nacht mit ihren schäbigen Vergnügungen. Auch Leni versucht, der verzweifelten Lage einen Zipfel Ablenkung abzutrotzen, folgt ihrem Freund, ohne sich ihm anzuschließen. Das Paar durchläuft getrennt eine Reihe von sich mehr und mehr ins Apokalyptische steigernden Erlebnissen, findet am Ende aber wie durch ein Wunder wieder zusammen: gezeichnet und gebeutelt von allumklammernder Tristesse, dennoch vereint und sogar mit einem Fünkchen Hoffnung ausgestattet. Wer in einen Kelemen-Film geht, erwartet sich alles andere als ein buntes Gute-Laune-Programm. Nach seinen mit „Verhängnis“ (fd 29 975) und „Frost“ (1997) jeweils programmatisch betitelten Vorgängerfilmen folgt nun „Abendland“ – eine mit düstere Reise ans Ende der Nacht. Wie in Célines Romanen gibt es in diesem Film keinerlei personelle Hoffnungsträger. Die Versuche des Helden, dem entfesselten Vorteilsdenken wenigstens ansatzweise etwas entgegen zu setzen, werden umgehend bestraft. Mitunter scheint es, als würde Kelemen mit seiner Werkbiografie das Scheitern seiner Protagonisten reproduzieren. „Verhängnis“, seine Abschlußarbeit der dffb, stieß auf ein überraschend positives Echo bei Publikum und Filmkritik; es animierte den Verleiher des Films, das Folgeprojekt als Co-Produzent zu betreuen. Doch im Laufe der Dreharbeiten bzw. während der Postproduktion von „Frost“ kam es zum Zerwürfnis zwischen Fred Kelemen und der Edition Salzgeber. Unwürdiges Gezerre inklusive juristischer Schritte und außergerichtlichen Einigungen hatten zur Folge, daß der Film niemals regulär auf die Leinwände gelangte. „Abendland“ schließlich, bereits im Jahr 1999 gedreht, wird nun mehr als drei Jahre nach seiner Fertigstellung mit einer einzigen Kopie ausgeliefert – eine eher symbolische Präsenz, die diesem Film keineswegs gerecht wird. Denn bei aller partiell berechtigten Kritik verkörpert die Produktion ein Stück authentisches, visionär gedachtes Kino; es steht für die in Deutschland selten gewordene radikale Autoren-Perspektive. In der Zwischenzeit inszenierte Kelemen auch Theaterarbeiten wie die in diesem Jahr in den Berliner Sophien-Sälen eingerichteten „Stammheim-Proben“. Dort aber zeigte sich, dass Kelemens Stärken im Bildlichen liegen. Die szenische Auflösung von Fremdtexten hingegen ist seine Sache nicht. Er denkt überaus kraftvoll in Bildern, scheint sich zwischen fixen Worten und Kulissen jedoch eher unsicher zu bewegen. Nicht umsonst führte er in allen seinen bisherigen Filmen selbst die Kamera, und es zwar wohl kein Zufall, dass er auch bei einem seelenverwandten Regisseur wie Béla Tarr für die Bildgestaltung verantwortlich zeichnet. Mit Béla Tarr, dem Schöpfer so solitärer Werke wie „Satanstango“ (30 808) oder „Die Werckmeister'schen Harmonien“, traf der wesentlich jüngere Filmemacher während seiner Ausbildung an der dffb zusammen, wo Tarr im Rahmen des DAAD-Austauschs zeitweilig eine Professur inne hatte. In der östlich tradierten, vor allem an Tarkowski geschulten filmischen Sichtweise machte Kelemen offenbar eine ästhetische Verwandtschaft aus. Kelemen verortet hier seine künstlerische Heimat, was weniger seiner ungarischen Mutter als der strikter Abgrenzung von der plotgestützten Erzählweise des Westens geschuldet ist. Mit Peter Wuss‘ Kriterien gemessen, handelt es sich hier um offen strukturierte Narrationen, um Erzählformen, die keines zentralen Konfliktes bedürfen. Inkohärente Geschehenssplitter gruppieren sich um ein im konventionellen Verständnis leeres Zentrum herum. Der inhaltliche Gestus ist in diesem Kontext dominanter als das konkrete Geschehen, die Atmosphäre ist stets wichtiger als ein Konflikt oder dessen Lösung. Völlig ohne Handlung kommt freilich „Stalker“ (fd 22 291) ebenso wenig aus wie „Abendland“. Was bei Tarkowski die Expedition zum mythischen, wunscherfüllenden Zimmer ist, findet bei Kelemen als Begegnung mit jenem geheimnisvollen Glockengießer Gestalt, der verzweifelt seine kleine Tochter sucht. Gegen Ende des ersten Drittels nimmt Anton die Bitte dieses Mannes auf, ihm bei seiner Suche behilflich zu sein. Die traumatische Spurensuche führt ihn immer tiefer in den babylonischen Sumpf der Stadt. Er stößt auf ein Verschwörungsnetz, das die grassierende Verarmung gnadenlos für Macht- und Sexualphantasien instrumentalisiert. Anton gelingt es nicht, das Leben des Kindes zu retten. Doch der Weg durch die Abgründe setzt kathartische Energien frei UND hebt ihn auf eine höhere Bewußtseinsebene. „Abendland“ strotzt von cineastischen und kulturhistorischen Bezügen, wobei die deutlichste Wahlverwandtschaft jene zu den Filmen Andrej Tarkowskis bleibt. Der Glockengießer erscheint wie der altgewordene, resignierte Berufskollege aus „Andrej Rubljow“. Verkörperte die Figur bei Tarkowski noch eine Allegorie auf unbezwingbaren Schöpfergeist, sieht sie sich bei Kelemen zur Tatenlosigkeit verdammt, „weil die Menschen nicht mehr glauben“. Der Mann führt Anton zu seiner einstigen Arbeitsstelle (am Wegrand: das zarte, allen Widrigkeiten trotzende Bäumchen aus „Opfer“, fd 25 962) und bittet darum, als Glockenschwengel fungieren zu dürfen. Dieses Zitat einer von dem Aktionskünstler Wolfgang Flatz stammenden und durch Romuald Karmakar filmisch dokumentierten, blutigen Performance („Demontage IX – Unternehmen Stahlglocke“, 1991) wird von Formeln wie „Schmerz muß in Erlösung verwandelt werden“ begleitet. Als Anton den Schmerzensmann später in seiner Behausung aufsucht, bekommt die Szenerie eine deutliche Kafka-Färbung. Das letzte, im dämonischen Hotel angesiedelte Drittel des Films wartet mit Tableaus auf, die unmittelbar David Lynchs „Blue Velvet“ (fd 26 040) entnommen scheinen. Eine morbide Diseuse stimmt hier das wunderbar-abgründige „Lied der einsamen Mädchen“ an, das einst Christa Päffgen alias Nico interpretierte. All diese Verweise wirken nur selten prätentiös, weil sie größtenteils durch die souveräne Bildgestaltung aufgefangen werden. Vor allem in der binnenszenischen Choreographie gelingen dem Regisseur/Kameramann einige grandiose Momente – ganz offensichtlich liegt seine Begabung primär im Bereich der Vertikalmontage. Problematisch wird „Abendland“ durch eine gewisse Unentschlossenheit in der Abstimmung von realistischen und phantasmagorischen Elementen. Während zu Beginn eine sehr deutliche Anbindung an nachvollziehbare Wirklichkeit dominiert (Sozialamt, Tram, Berliner Straßenszenen), kippt das Geschehen wenig später ebenso unvermittelt wie total in die Metaebene eines allumfassenden „Stalker“-Kontinents. Nach einem Text von Kelemen zur Uraufführung des Films während der „Berlinale“ 2000 handelt das Ganze im Osten Deutschlands, in der Nähe zur polnischen Grenze. Tatsächlich wurden große Teile jedoch in Portugal gedreht, was man auch sieht. Im Gegensatz zu seinen großen Vorbildern mangelt es dem Film bisweilen sowohl an innerer als auch an äußerer Geschlossenheit. Die Unbekümmertheit, mit der hier mit disparaten Rezepturen hantiert wird, wirkt letztlich kontraproduktiv. Ein überdeutlich ausgestellter Wille zur Transzendenz reicht als Harmonisierungsfaktor auf Dauer aber nicht aus.
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