- | Deutschland 2002 | 86 Minuten

Regie: Henner Winckler

Eine zehnte Klasse aus Berlin fährt nach Polen. Im Ambiente eines schäbigen Ostsee-Kurortes verliebt sich ein introvertierter Jugendlicher in eine Mitschülerin. Vor ihrer ersten Liebesnacht kommt es zur Mutprobe mit einem polnischen "Rivalen", bei der dieser vermutlich stirbt. Eine genaue Beobachtung von Ungeschliffenheit, Hilflosigkeit und Kommunikationsproblemen Heranwachsender, die vor allem auf sinnfällige Bilder setzt. Die jugendlichen Laiendarsteller spielen sich selbst und beobachten sich zugleich: eine faszinierende Mischung aus Authentizität und Distanz. Eine psychologisch und soziologisch stimmige Erkundungsreise in die Lebens- und Konfliktwelt heutiger Jugendlicher. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Schramm Film/ZDF-Das kleine Fernsehspiel/Tempus sp.z. o.o.
Regie
Henner Winckler
Buch
Henner Winckler · Stefan Kriekhaus
Kamera
Janne Busse
Musik
Cem Oral
Schnitt
Bettina Böhler
Darsteller
Sophie Kempe (Isa) · Steven Sperling (Ronny) · Bartek Blaszczyk (Marek) · Maxi Warwel (Martina) · Jakob Panzek (Steven)
Länge
86 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
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Diskussion
Die Neue Sachlichkeit, die derzeit im deutschen Kino mit Arbeiten von Valeska Grisebach, Thomas Arslan, Angela Schanelec, Ulrich Köhler und anderen gepflegt wird, hat mehrere stilistische Konstanten: den weitgehenden Verzicht auf äußere Dramatik, die Dominanz des Bildes vor dem Wort, das mitunter quälende Sicht- und Spürbarmachen vergehender Zeit, wobei in den besten Beispielen die dokumentarisch intendierte Genauigkeit der Beobachtung durch erzählerische Verdichtung und unaufdringliche optische Metaphorik auf die Ebene von Kunst erhoben wird. Es sind immer junge Helden, um die es dabei geht; und es sind oft introvertierte Charaktere, die sich auf den ersten Blick fürs Kino wenig eignen. Tatsächlich dürfte, wer marktschreierische Melodramen à la „Knockin‘ On Heaven‘s Door“ (fd 32 404) oder gar die pubertären Spaßkreationen aus der Eichinger-Werkstatt mag, mit Filmen wie „Mein Stern“ (fd 34 780), „Dealer“ (fd 33 601) oder „Bungalow“ wenig anfangen können. Doch gerade in einigen dieser leisen Arbeiten wird nachzuforschen sein, wenn es darum geht, dem Lebensgefühl, der Sinnsuche, den frühen Krisen, den kommunikativen Nöten junger Menschen im Deutschland um die Jahrtausendwende nachzuspüren. Auch „Klassenfahrt“ gehört zu diesen psychologisch und soziologisch wichtigen cineastischen Erkundungsreisen. Eine Erwachsenenwelt, die sich partout nicht zu erklären vermag, warum es, im schlimmsten Fall, zu einer Tat wie der des Erfurter Gymnasiasten Robert Steinhäuser kommen konnte, der im April 2002 an seiner Schule ein Blutbad anrichtete, findet in diesen Filmen manche Antwort. Diese wird freilich nicht auf dem Tablett serviert, sondern gleichsam zwischen den Bildern: durch die Art, wie jemand blickt und schweigt, sitzt und geht, wie die Füße den Boden berühren und wie die Schultern hängen. Der 16-jährige Ronny ist so eine Figur, wobei Henner Winckler nichts über deren Woher, das Gewordensein in Elternhaus und Gesellschaft mitteilt, sondern lediglich, dafür aber so genau als möglich, ihren „Jetztzustand“ beschreibt. Der Film nutzt dafür einige Tage, in denen sich die zehnte Klasse, die Ronny besucht, aus ihrer angestammten Umgebung entfernt: Man ist, mit dem Bus von „Sonnenschein-Reisen“ (ein etwas aufdringlicher, symbolschwangerer Name) auf Klassenfahrt nach Polen unterwegs. Ziel ist ein Ostseebad im Stettiner Haff, ein Ort mit längst verblichenem Charme; wie in Viscontis „Tod in Venedig“ (fd 17 358) weist schon das Ambiente auf eine Art Endzeitstimmung hin. Bereits in einem der ersten Motive skizziert Winckler ohne jeden Dialog die Stellung Ronnys als Außenseiter: Aus der Totale werden die durchgehenden Balkone des Ferienheims gezeigt; Ronny, der als Letzter draußen steht, kann nicht mehr in sein Zimmer, weil es die Klassenkameraden von innen verriegelt haben; nun klopft er an die Scheiben, findet lange kein Gehör. Dieses Motiv des Ausgeschlossenseins wird später mehrfach variiert; etwa, wenn Ronny allein frühstückt, wenn er Steinchen ins Wasser wirft, während die anderen am Strand toben, oder wenn er mit sich selbst Tischtennis spielt. Die wenigen, zaghaften und nicht sehr motivierten Versuche des Jungen, sich auf die Mitschüler zu zu bewegen, enden meist im Fiasko. Beim Ballspiel verletzt er prompt ein Mädchen am Kopf. Bei einer Führung im Archäologischen Museum vermag er nur durch eine Einlage als Klassenclown Aufmerksamkeit zu erregen. Die Kommunikation mit den anderen tendiert bei ihm gegen Null. Steven Sperling, der wie alle jugendlichen Darsteller des Films kein professioneller Schauspieler ist, schlurft mit eingezogenem Kopf und herabhängenden Schultern durch diese Rolle: sehr ungeschliffen, fast ohne Lächeln, nie das „richtige“ Wort findend. Eine andere Haltung wäre für diese Figur auch kaum denkbar – so wie für das Mädchen Isa, in das er sich verliebt, kein anderer Ausdruck möglich wäre als der von Sophie Kempe: forsch, etwas aufmüpfig, aber von den Mitschülern auch nicht gerade in ihre Mitte genommen. Winckler führt diese beiden Jugendlichen, die das Universum der Kindheit zwar verlassen haben, aber noch nicht in dem der Erwachsenen angelangt sind, aufeinander zu. Er zeigt die damit verbundenen Ängste, Missverständnisse, Dummheiten, den Gefühlsstau und die Unfähigkeit, darüber zu reflektieren. Wie der gesamte Film ist schließlich auch die Katastrophe, in die der Film mündet, völlig frei von Spektakulärem. Im Gegenteil: Der von Ronny provozierte Sprung des 18-jährigen polnischen „Rivalen“ Marek von einer Brücke ins Meer, eine körperliche Macht- und Mutprobe, findet in aller Stille und im Dunklen statt. Marek wird nicht gefunden; übrig bleiben, auf der Brücke, nur seine Kleidungsstücke. Ronnys „Beichte“ gegenüber Isa, nach zwei langen Tagen, in denen er das nächtliche Geschehen für sich behielt, geschieht dann außerhalb des Films. Erst nach Ronnys Offenbarung kehrt Winckler zu dem Paar zurück, mit einem knappen, symptomatischen Dialog: „Und warum hast Du mir nichts erzählt?“ – „Ich weiß nicht.“ Eine Antwort, die die Stimmung in einem einzigen Satz bündelt. Der Film ist aus vielen genauen Szenen gebaut; sie skizzieren, unter anderem, die Fremdheit gegenüber Polen und polnischen Gleichaltrigen (obwohl Berlin, woher die Klasse kommt, ja nicht einmal hundert Kilometer vom Nachbarland entfernt ist); sie zeigen das Imponiergehabe und die Hahnenkämpfe der Jungen gegenüber den „eigenen“ Mädchen und das Großmannsgetue gegenüber polnischen Kellnerinnen; sie fassen die tiefen Unsicherheiten beim Erwachsenwerden in aussagestarke szenische Tableaus. Dabei spielen die Jugendlichen sich selbst und beobachten sich zugleich: eine faszinierende Melange aus Deckungsgleichheit und Distanz. Vor allem darin und im Verzicht auf jegliche Spekulation liegt die Größe von „Klassenfahrt“. Die erste Liebesnacht zwischen Ronny und Isa – bezeichnender Weise unmittelbar nach Mareks Verschwinden – wird nur diskret angedeutet, so, wie auch Ronnys Tränen nicht ausgespart werden, wenn er allein am Strand über den Tod des „Rivalen“ nachgrübelt. Immerhin den ersten schweren Verlust seines Lebens: ein unvergesslicher Einschnitt.
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