Nachtschicht (2002)

- | Deutschland 2002 | 83 Minuten

Regie: Alexander Riedel

Vier Angestellte einer Münchner Druckerei, die ihr Berufsleben weitgehend auf Nachtschicht verbrachten, werden in den vorzeitigen Ruhestand entlassen. Der Dokumentarfilm begleitet sie während ihrer letzten Arbeitstage. Ein genau beobachtender Film voller subtiler Zwischentöne, der von Sympathie für seine Protagonisten und einer einfühlsamen Intimität getragen ist. So werden nicht nur Arbeitsabläufe vermittelt, auch die Angst vor der Zukunft und der Einsamkeit wird nachvollziehbar. Deutlich wird auch, dass selbst monoton erscheinende Arbeiten Lebensinhalt bedeuten können. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
ZDF (Das kleine Fernsehspiel)/HFF München
Regie
Alexander Riedel
Buch
Alexander Riedel
Kamera
Alexander Riedel · Sorin Dragoi · Christof Oefelein
Musik
Benedikt Schiefer
Schnitt
Gaby Kull-Neujahr
Länge
83 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Thomasso will zurück nach Italien. Nach Genua. Angeln, die Sonne genießen und endlich wieder Fisch und Muscheln essen. Willi wird sich einen Hund kaufen. Nicht irgendeine Promenadenmischung, sondern einen richtigen Pudel. Einen dreifarbigen, mit „einer Gestalt wie ein Reh“, sagt er. Olga fährt erst einmal für drei Wochen weg. Abschalten. Nur Ernst weiß noch nicht so recht, was er danach machen wird. „So is’ halt, das Leben“, sagt er. „Danach“ ist nach der Arbeit. In diesem Fall nicht nach Feierabend, sondern nach dem letzten Arbeitstag bzw. der letzten Arbeitsnacht. Denn die vier Arbeiter einer Münchner Druckerei, alle jenseits der 50, haben fast immer nur nachts gearbeitet. Natürlich der Lohnzuschläge wegen. Aber jetzt ist Schluss. Für manche von ihnen nach mehr als 40 Jahren Betriebszugehörigkeit. Da die Druckerei mit einer großen Boulevardzeitung einen wichtigen Kunden verloren hat, werden Thomasso, Willi, Olga und Ernst in den Vorruhestand entlassen.

Der Film begleitet die Vier durch ihre letzten Nächte in der Druckerei. Um 18 Uhr steuert Ernst mit einer Aldi-Tüte in der Hand seinen Arbeitsplatz an einer Verpackungsmaschine an, wo er den Beutel mit seiner Thermoskanne und den Butterbroten für die Nacht behutsam auf einen Tisch stellt. Während einer langen Kamerafahrt kommen gigantische Papierrollen ins Bild, Rotationsmaschinen und ein wirr anmutendes Geflecht von Laufbändern, die sich wie nach einer ausgetüftelten Choreografie irgendwann langsam in Bewegung setzen. Ein erst klackendes Geräusch, das bald zu ohrenbetäubendem Lärm anschwillt, der mit musikalischen Sounds aus dem Off verschmilzt. Dann sieht man Ernst und Willi im Pausenraum unter Neonlampen vor einem Getränkeautomaten an einem Resopaltisch sitzen und hört sie über dies und das reden. Sie erzählen Belangloses vom Tage, machen Scherze und grübeln über die Frage, was nun aus ihnen werden soll im Vorruhestand. Dazu kommen wehmütige Erinnerungen an jene Jahre, in denen noch alles zum Besten stand mit der Druckerei und damit auch mit ihnen.

Dieses Wechselspiel zwischen hektischer Betriebsamkeit des Produktionsprozesses und den fast zum Stillleben verdichteten Ruhephasen strukturiert diesen Dokumentarfilm, dessen Dramaturgie vom Countdown bis zur letzten Nachtschicht bestimmt wird. Dabei ziehen sich Kamera und Autor/Regisseur nicht auf die Position des abwesend- anwesenden Beobachters zurück, sondern sind jederzeit Teil der Handlung; sie werden von den Protagonisten immer wieder in das Geschehen einbezogen. So wie die Arbeiter bisweilen direkt in die Kamera sprechen und dem Filmteam auch schon mal Anweisungen erteilen („So, ihr müsst mich jetzt begleiten“), hört man hin und wieder Fragen des Autors („Was machst du denn jetzt da?“) aus dem Off. Eine probate Methode, die die Protagonisten nicht nach dem Schema: „Tut so, als wären wir gar nicht da“ zu Laiendarstellern macht, sondern eine Intimität herstellt, die dennoch nie in pseudosolidarische Kumpanei ausartet. So gelingt Alexander Riedel eine von Sympathie getragene, überaus differenzierte Zeichnung seiner Protagonisten, die inmitten der monotonen Arbeitsabläufe mit ihren vorwiegend stupiden Handgriffen nach und nach zu individuellen Charakteren werden. Auch fließt in die Gespräche zunehmend Privates ein. Man hört von zerbrochenen Ehen, Beziehungen, die nicht zuletzt an der Nachtschicht scheiterten und der Angst vor der großen Einsamkeit nach der Entlassung. „Das war einfach mein Leben“, sagt Willi einmal. Dann macht er eine Pause, guckt irgendwo ins Nichts und sagt dann noch einmal: „Das war mein Leben.“ Was ihn freilich nicht daran hindert, wenig später im Brustton der Überzeugung zu verkünden, dass er sich auf seinen Ruhestand freue. Doch das klingt nach Galgenhumor oder wie das Rufen im finsteren Wald. So wird hier ohne erhobenen Zeigefinger, holzschnittartiger Kapitalismuskritik und Larmoyanz sinnfällig, dass auch Arbeitsverhältnisse mit anspruchslosen, monotonen Tätigkeiten mehr sind als nur verhasste Möglichkeiten zum Gelderwerb. Mit ihrem Job verlieren die vier Arbeiter das, was für sie über Jahre ihre Familie war, für die es so schnell keinen Ersatz geben wird. Es gebe ja so Rentnertreffen der Zeitung, sagt Olga in ihrer letzten Schicht, während der sie ihren Kollegen Sekt und Schnittchen spendiert. Aber ob sie da hingehen werde, wisse sie noch nicht.

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