Der Mann ohne Vergangenheit (2002)

Tragikomödie | Finnland/Deutschland 2002 | 96 Minuten

Regie: Aki Kaurismäki

Ein von Räubern erschlagener Mann kehrt ins Leben zurück. Obwohl er sein Gedächtnis verlor, gelingt es ihm mit Einfallsreichtum, Hartnäckigkeit und durch die Liebe einer Heilsarmee-Angehörigen, wieder Fuß zu fassen. Modernes sozialkritisches Märchen mit religiösen Untertönen, das die Geschichte einer Menschwerdung erzählt und den Traum von Nächstenliebe und Solidarität durchbuchstabiert. Ein in satten Technicolor-Farben eindrucksvoll gestalteter Film, der sich durch Stilwillen, Situationskomik und poetische Imagination auszeichnet und von überzeugenden Hauptdarstellern getragen wird. (Preis der Ökumenischen Jury Cannes 2002) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MIES VAILLA MENNEISYYTTÄ | THE MEN WITHOUT A PAST
Produktionsland
Finnland/Deutschland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Sputnik OY/YLE/TV1/Pabdira
Regie
Aki Kaurismäki
Buch
Aki Kaurismäki
Kamera
Timo Salminen
Schnitt
Timo Linnasalo
Darsteller
Markku Peltola (M) · Kati Outinen (Irma) · Juhani Niemelä (Nieminen) · Kaija Pakarinen (Kaisa Nieminen) · Sakari Kuosmanen (Anttila)
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Tragikomödie
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Verleih DVD
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Diskussion
Als Anfang 1994 eine Gruppe von Grundschülern im Auftrag der finnischen Tageszeitung „Helsingin Sanomat“ ausgewählten Personen der Öffentlichkeit einen Fragekatalog zusandte, versuchten sich die meisten Prominenten möglichst witzig zu geben. Aki Kaurismäki hingegen nahm die kindliche Wahrnehmung ernst und antwortete auf die Frage „Was ist der Sinn des Lebens?“: „Er besteht darin, einen persönlichen Moralkodex zu entwickeln, der die Natur und den Menschen respektiert, und schließlich – ihn zu leben.“ Die Maxime zieht sich seit nunmehr 20 Jahren wie ein roter Faden durch das Werk des trink- und feierfreudigen, dabei aber seine Sinne stets beisammen habenden Cineasten, dem eine geistig-seelische Verwandtschaft zu Tati und Chaplin unterstellt werden darf. Bei allem Gespür für Humor, der allerdings deutlich lakonischer ausgeprägt ist als bei seinen Vorbildern, verliert der „Schutzpatron der Hoffnungslosen“ nie die Würde seiner Protagonisten aus den Augen. Nach einer vierjährigen Schaffenspause konnte Kaurismäki in diesem Jahr gleich zwei Filme fertigstellen: „Dogs Have No Hell“ (eine Kurzfilm-Episode des „Ten Minutes Older“-Projekts) und die mehrfach prämierte optimistische Tragödie „Der Mann ohne Vergangenheit“. Vier Jahre nach „Juha“ (fd 33 597) verfügt der neue Kaurismäki über alles, was seine vorherigen Arbeiten auszeichnete: Stilwillen, Situationskomik, poetische Imagination, stimmungsvolle Musik und Menschlichkeit jenseits von Sentimentalität. Neu hinzu gekommen sind satte Technicolor- Bilder und relativ viele, freilich unaufgeregte Dialoge. Ein Mann wird nach einem Raubüberfall schwerverletzt ins Krankenhaus gebracht. Dort erklären ihn die Ärzte wenig später für tot. Doch kaum dass sie das Zimmer verlassen haben, erwacht der Mann und reißt sich den Verband wie einst Frankensteins Monster vom Leib. Als coole Kreuzung zwischen Obdachlosem und Odysseus wandelt er erinnerungslos durch die seltsam leeren Straßen Helsinkis, bis er in einem ausrangierten Müllcontainer am Flussufer ein bescheidenes Domizil findet. Versorgt mit Kleidern von der Heilsarmee, kehrt der Gedächtnislose mit Hartnäckigkeit und Einfallsreichtum ins Leben zurück, freilich ohne zu wissen, wer er eigentlich ist und woher er stammt. Mit der schüchternen Heilsarmistin Irma knüpft er zarte Liebesbande. Nachdem sich die Jobvermittlung vom Mann ohne Personalausweis und Sozialversicherungsnummer verschaukelt fühlt, stellt er sich neuen Aufgaben der Geldbeschaffung. Sein Faible für Rock’n’Roll bringt ihn auf die Idee, das stilistische Spektrum der betulichen Heilsarmee-Musikkapelle umzukrempeln. Bei einem Streifzug durch das Hafengelände beobachtet er Arbeiter beim Schweißen, probiert dies selbst, entpuppt er sich als Meister des Fachs und soll fest angestellt werden, wenn er über ein Gehaltskonto verfügt. Als er dieses bei der Bank eröffnen will, wird er Opfer eines Überfalls und im Tresorraum eingesperrt, schließlich sogar der Komplizenschaft verdächtigt. Zwar kann ihn ein von Irma gestellter Anwalt vor längerer Untersuchungshaft bewahren, doch der Kommissar besteht auf einer Klärung seiner Identität. Nachdem sein Foto im Fernsehen gezeigt wurde, meldet sich seine Ehefrau. Nun steht der „Mann mit akuter Vergangenheit“ vor einem Problem. Soll er seine neue Liebe verlassen und zu seiner Gattin zurückkehren, an die ihm jede Erinnerung fehlt? In der Zusammenfassung klingt der Inhalt leicht nach Kolportage oder Trash. Doch die weitgehend unprätentiöse Inszenierung verwandelt diesen Stoff in ein modernes sozialkritisches Märchen, das auf staunenswerte Weise in sich stimmig und schlüssig ist. Das finnische Enfant terrible stellt sich dabei einmal mehr auf die Seite der von der Gesellschaft Belächelten und Ausgestoßenen. In wundersam leuchtenden Primärfarben zeichnet er seinen Traum von Solidarität und Nächstenliebe. Nach dem brutalen Anfang lässt sich der Film zunächst Zeit, bis er zunehmend an Tempo gewinnt. „Der Mann ohne Vergangenheit“ ist die Geschichte einer neuen Menschwerdung, dem Ergreifen einer zweiten Chance, die das Leben nicht jedem bietet. Der namenlose Protagonist hat eigentlich keine Chance, ergreift sie dann aber mit beiden Händen. Dargestellt wird er von Markku Peltola, der nach Kurzauftritten in „Juha“ und „Dogs Have No Hell“ seine erste Hauptrolle spielt. Von der Physiognomie her ähnelt er Jean-Pierre Léaud, der in Kaurismäkis „I Hired A Contract Killer“ (fd 28 801) mitwirkte. Der Unterschied zwischen den beiden Akteuren: Peltola scheint mehr in sich zu ruhen als Léaud. Von der Ausstrahlung gleicht er einem finnischen Robert Mitchum, der mit Gleichmut dem Schicksal trotzt. Kati Outinen wurde dieses Jahr in Cannes für den etwas blassen Part der Irma als beste Darstellerin geehrt; Peltola hätte den Preis eher verdient. Er ist ein würdiger Nachfolger für den verstorbenen Matti Pellonpää, der zahlreichen Filmen Kaurismäkis seinen Stempel aufdrückte.

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